Treffsicher im Schwarm – Studierende als Konjunkturbarometer
Im ersten Anlauf sagten sie das am 15. Mai verkündete unerwartet hohe Wachstum des ersten Quartals fast exakt voraus.
„Wahrsager“, „Vodoopriester“, „Kaffeesatzleser“ – im Gefolge der allgemeinen Krise mussten die etablierten Konjunkturexperten teils harsche Kritik einstecken. Den Einbruch des Bruttoinlandsproduktes (BIP) nach den spektakulären Bankenpleiten hatten sie in seiner Schärfe nicht vorhergesehen. „So viele falsche Prognosen und Ungewissheit in der Abschätzung der Märkte gab es noch nie“, urteilt Prof. Johann Graf Lambsdorff.
„Die etablierten Modelle schreiben die Logik der Vergangenheit fort. Echte Strukturbrüche, wie wir sie mit der Banken- und Währungskrise derzeit erleben, können sie nur unzureichend abbilden“, so der Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftstheorie an der Universität Passau. Lambsdorff möchte die Puzzleteile neu zu zusammensetzen, die zu einer treffsicheren Vorhersage führen, wie sich das deutsche Bruttoinlandsprodukt entwickeln wird.
Dafür setzt er auf Schwarmintelligenz, die er auf einer offenen Konjunkturbörse im Internet sammeln will. Unter www.konjunkturboerse.de wirbt er zunächst vor allem um Studierende, die auf das künftige BIP-Wachstum wetten können. Sein Ziel: Studierende und weitere Teilnehmer aus allen Bereichen zu gewinnen. Kurz nach dem Start der Börse sind bereits 160 Nutzer aktiv. Sie schätzten das Wachstum des 1. Quartals 2012 auf 1,6 Prozent. „Ein ungewöhnlich hoher Wert – gerade nach dem Einbruch zum 4. Quartal 2011 hatten viele Experten mit einer weiteren Eintrübung gerechnet“, so Lambsdorff. Doch das Statistische Bundesamt bestätigt am 15. Mai diese Prognose fast exakt – es lag im Vergleich zum 1. Quartal 2011 bei 1,7 Prozent. „Eine minimale Abweichung von lediglich 0,1 Prozent zeigt, wie gut sich mit Hilfe von Schwarmintelligenz die Entwicklung vorhersagen lässt“, sagt Prof. Lambsdorff.
Er ist überzeugt, dass ein Querschnitt heterogener Sichtweisen bessere Voraussagen ergibt als das Votum von Experten. „Wir wollen die Politologen und Medienwissenschaftler mit dem Gefühl für politische Stimmungen, wir wollen die Juristen und Kulturwirte, die ihr Wissen aus dem Konsum ausländischer Medien einbringen. Womöglich haben diese Nutzer ein besseres Gefühl für wachstumsrelevante Faktoren als Profis mit ihrem rein wirtschaftswissenschaftlichen Horizont“, so Lambsdorff.
Die Börse behebe zudem einen wesentlichen Nachteil gängiger Konjunkturbarometer. „Die üblichen Verfahren reagieren mit ihrem Drei- bis Sechsmonats-Rhythmus zu langsam in einer Zeit der Turbulenzen. Im Internet sind wir dagegen tagesaktuell“, so Lambsdorff.
Wer sich beteiligt, kann im Quartal bis zu 500 Euro gewinnen – abhängig von der Treffsicherheit der Prognose. „Wer sich anmeldet, bekommt zunächst virtuelle 1000 Kontrakte pro Quartal, die er oder sie verkaufen kann. Bis zu 1000 Kontrakte können zu diesen noch hinzugekauft werden.“, erklärt Michael Scholz, Juniorprofessor für Wirtschaftsinformatik und zuständig für die technische Ausgestaltung der Konjunkturbörse. Die Börse kommt dann in Gang, wenn die Teilnehmer ihre Kontrakte untereinander tauschen. Wer auf 1,5 Prozent Wachstum tippt, damit richtig liegt, aber nichts tut, bekommt nach Ablauf des Quartals für seine Kontrakte 150 Euro, also 15 Cent pro Kontrakt.
Besser fährt man, wenn man seine Kontrakte für 2 Prozent Wachstum (oder 20 Cent pro Kontrakt) verkauft an Spieler, die zum Beispiel auf 2,5 Prozent setzen. Statt 150 Euro macht man dann 200 Euro Gewinn. „Am besten werden diejenigen fahren, die intensiv Handel treiben und die Konjunkturerwartungen der Mitbieter genau im Blick haben“, so Scholz. Am Tag vor der Verkündung der realen Zahlen durch das Statistische Bundesamt wird die Börse für das abgelaufene Quartal geschlossen.
Je höher man seinen virtuellen Kontostand treibt, umso höher fällt auch der reale Gewinn aus, wenn man ausgelost wird. „Dieses offene Verfahren sorgt für eine breit gestreute Teilnahme und setzt Anreize, Zeit und Mühe in die Gewinnung und Auswertung von Konjunkturinformationen zu investieren. So bringen wir die Teilnehmer spielerisch dazu, sich mit Themen der Wirtschaft auseinanderzusetzen“, erklärt Prof. Scholz.
Die Gewinnausschüttung wird ermöglicht durch eine Zuwendung von 5.000 Euro durch die IHK Niederbayern. „Möglichst treffgenaue Prognosen sind entscheidend für die unternehmerische Planung. Das haben wir sowohl in der vergangenen Krise, als auch im Boomjahr 2011 deutlich gesehen“, sagt Walter Keilbart, Hauptgeschäftsführer der IHK. „Wenn die Universität Passau mit der Konjunkturbörse zur Verlässlichkeit von Prognosen beiträgt, dann stärkt das letztlich die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen und tut dem Standort Niederbayern gut.“
Organisatorisch unterstützt wird das Projekt Konjunkturbörse von der studentischen Unternehmensberatung INSTEAD. Sie sorgt mit einem Marketing-Konzept für eine rege Beteiligung. „Wir wollen einen Spannungsbogen schaffen“, erklärt Ferdinand von Fumetti von der Hochschulgruppe. Mit Kurzbotschaften auf Bannern und einem Countdown auf den Mensa-Bildschirmen sollen die potenziellen Nutzer zunächst neugierig gemacht werden, bevor die INSTEAD-Mitarbeiter mit Vorlesungsansprachen Details des Konzeptes erläutern. „Wir wollen vor allem die Freude am virtuellen Handeln und das Interesse am wissenschaftlichen Ansatz wecken – wie gut sind wir gemeinsam; gelingt es uns, die Wirtschaftsweisen zu schlagen“, erläutert von Fumetti. Der Erfolg des noch vergleichsweise kleinen Schwarms ermutigt ihn. Bewahrheiten sich auch die weiteren Prognosen, stehen die Zeichen für das Gesamtjahr 2012 gut. Derzeit weisen die Werte der Konjunkturbörse auf ein weiteres Wachstum von etwa 1,5 Prozent hin.
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