Schwächer werdendes Investitionswachstum und zunehmende Abwanderung hochqualifizierter Wissenschaftler
Zwei Hauptbedrohungen für die europäische wissensbasierte Wirtschaft
Philippe Busquin, das für Forschung zuständige Mitglied der Europäischen Kommission, hat heute in Brüssel zwei neue Veröffentlichungen über die Stellung Europas in den Bereichen Forschung und Innovation vorgestellt. Die Veröffentlichungen „Key figures 2003-2004 for science, technology and innovation“ und „Brain drain study – Emigration flows for qualified scientists“ zeichnen ein düsteres Bild. Die Aufforderung des Europäischen Rats vom März 2000 in Lissabon, Europa zur Wirtschaftslokomotive von Weltklasseniveau zu machen, und das Ziel der darauffolgenden Tagung des Europäischen Rates in Barcelona vom März 2002, die F&E?Ausgaben der EU bis 2010 von 1,9 % auf 3 % zu steigern, sind weit davon entfernt, Realität zu werden. Die Fortschritte vollziehen sich langsam, und in einigen Bereichen wird sogar an Boden verloren. Das Wachstum der Investitionen in die wissensbasierte Wirtschaft geht zurück; die F&E?Investitionskluft zwischen der EU und den Vereinigten Staaten weitet sich zugunsten der USA aus und die Abwanderung der besten Köpfe nimmt zu. Die beiden neuen Veröffentlichungen werfen ein Schlaglicht auf die allgemeine Verschlechterung der wissenschaftlichen und technologischen Leistung Europas.
„Weitere Anstrengungen sind nötig, damit die Europäische Union bei der Erreichung der übergeordneten Ziele von Lissabon und Barcelona auf Kurs bleibt,“ sagte das für die Forschung zuständige Mitglied der Europäischen Kommission, Philippe Busquin. „Mehr als zuvor ist es von größter Wichtigkeit, die Attraktivität des Europäischen Forschungsraums (EFR) als Standort für Weltklasseforschung aufrecht zu erhalten und zu verbessern. Die Umsetzung des Aktionsplans der Kommission zur Erhöhung der F&E?Investitionen und die Verbesserung der Rahmenbedingungen und der Mobilität von Forschern sind in der derzeitigen Situation eine Schlüsselpriorität. Ich rufe die EU?Mitgliedstaaten und die Wirtschaft dazu auf, ihre Anstrengungen in diesem Bereich zu verstärken. Keine Lippenbekenntnisse mehr: wir müssen handeln, und zwar jetzt.“
Entscheidende Statistiken zu Wissenschaft und Technik und zur Abwanderung
Die erstgenannte Veröffentlichung ist die vierte Ausgabe des EU?Berichts ‚Key Figures on Science, Technology and Innovation’ (Schlüsseldaten zu Wissenschaft, Technologie und Innovation), in dem zum ersten Mal umfassende Daten für die Beitritts- und Kandidatenländer enthalten sind. Die zweite Veröffentlichung ist eine eingehende Studie über die Mobilität von Humanressourcen in Wissenschaft und Technik innerhalb der Grenzen Europas und darüber hinaus mit dem Titel ‚The Brain Drain – Emigration Flows for Qualified Scientists’.
Verlangsamung
In den Jahren 2000?2001 war in der EU?15 eine erhebliche Verlangsamung des Übergangs zu einer wissensbasierten Wirtschaft zu verzeichnen. Die Wachstumsraten sowohl der Investitionen insgesamt als auch der Gesamtleistung in der wissensbasierten Wirtschaft waren deutlich niedriger als in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre.
Rückstand der Beitritts- und Kandidatenländer
Erstmalig liegen systematische Daten für die Beitritts- und Kandidatenländer und ein Durchschnittswert für die EU?25 vor, was in nützlicher Weise Aufschluss über den Grad der Konvergenz (oder Divergenz) zwischen den bisherigen und den neuen Mitgliedstaaten gibt. Alle Beitritts- und Kandidatenländer weisen beim Übergang zur wissensbasierten Wirtschaft einen Rückstand gegenüber dem europäischen Durchschnitt sowohl hinsichtlich der Investitionen als auch der Leistung auf. Allerdings gibt es Anhaltspunkte dafür, dass eine große Mehrheit dieser Länder gegenüber dem übrigen Europa aufholt.
Größer werdender Abstand zu den Vereinigten Staaten
Was die F&E?Ausgaben betrifft, so ist die EU?15 weit davon entfernt, den großen Investitionsabstand (in absoluten Zahlen) zu den Vereinigten Staaten zu verringern. Im Gegenteil: der F&E-Ausgabenunterschied zwischen der EU und den Vereinigten Staaten hat sich zugunsten der USA weiter vergrößert. Der Trend war seit Mitte der neunziger Jahre negativ, und aus den jüngsten Daten geht keine Trendumkehr hervor. Dieser Abstand geht zu etwa 80 % auf den Unterschied bei den F&E?Ausgaben der inländischen Unternehmen in den Vereinigten Staaten und in der EU?15 zurück.
Europäische Unternehmen investieren in die Forschung – allerdings in den USA!
Ferner ergibt sich aus der Analyse der Ströme der von den Unternehmen getätigten F&E?Ausgaben zwischen den Vereinigten Staaten, Japan und der EU, dass die europäischen Unternehmen ein Drittel mehr für Forschung und Entwicklung in den USA aufwenden als amerikanische Unternehmen in der EU?15. Dies bedeutet, dass allein für das Jahr 2000 ein Nettoabfluss der europäischen F&E?Ausgaben in Höhe von nahezu 5 Mrd. € zu verzeichnen war, hauptsächlich zugunsten des amerikanischen Forschungssystems. Im Vergleich mit anderen Regionen der Welt zieht die EU?15 10 % weniger F&E-Investitionen aus den USA als vor zehn Jahren an. Dieser Trend unterstreicht eine Hauptschwachstelle Europas, nämlich die Unfähigkeit, ausreichend wissensintensives und wissenproduzierendes Kapital in der globalen wissensbasierten Wirtschaft anzuziehen.
Abwanderung nimmt zu
Die Abwanderung hochqualifizierter Wissenschaftler, die in der EU geboren sind, nimmt zu. Rund 75 % der in der EU geborenen Träger eines US?Doktortitels, die ihren Abschluss zwischen 1991 und 2000 machten, hatten keine besonderen Pläne, in die EU zurückzukehren, und immer mehr entscheiden sich dafür, in den USA zu bleiben. Die wichtigsten Gründe dafür, dass die in der EU geborenen Wissenschaftler und Ingenieure im Ausland bleiben, haben mit der Qualität der Arbeit zu tun. Bessere Berufsaussichten und Projekte und der leichtere Zugang zu führenden Technologien waren die Gründe, die am häufigsten für Pläne, im Ausland zu arbeiten, genannt wurden.
Weniger wissenschaftliche Veröffentlichungen und Patente in der EU
Die diesjährigen Veröffentlichungen heben auch eine Verschlechterung der (durch Veröffentlichungen und Patente gemessenen) wissenschaftlichen und technologischen Leistung Europas gegenüber den Vereinigten Staaten hervor. Die EU?15 hinkt in puncto technologischer Leistung immer noch hinter den USA hinterher und scheint nicht aufzuholen, während es Anzeichen dafür gibt, dass ihre weltweite Führung im wissenschaftlichen Bereich abnimmt. Darüber hinaus liegt der Anteil Europas am weltweiten Hochtechnologiehandel deutlich unter dem der Vereinigten Staaten und Japans. Wenngleich die jüngsten Wachstumsraten bei den Hochtechnologieexporten in der EU?15 höher als die der USA und Japans waren, muss die EU?15 noch einen großen Rückstand aufholen.
Hintergrund: Was ist nun zu tun?
Auf der morgigen Tagung des Rates „Wettbewerbsfähigkeit“ (26. November 2003) werden sich die Forschungsminister mit Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum beschäftigen. Dies erfolgt im Anschluss an die Diskussionen während der Ratstagung vom 10. November, auf der der 3 %?Aktionsplan und die Karriere von Forschern erörtert wurden.
Höchste Zeit, den 3 %?Aktionsplan umzusetzen
Am 30. April 2003 nahm die Kommission eine Mitteilung „In die Forschung investieren: Aktionsplan für Europa“ (KOM(2003)226 an, in der Maßnahmen zur Erreichung des „3 %-Ziels“ von Barcelona dargelegt werden. Im Aktionsplan werden Maßnahmen aufgezeigt, die nötig sind, um in der EU die Forschungsinvestitionen von 1,9 % auf 3 % des durchschnittlichen Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu steigern, von denen zwei Drittel durch den privaten Sektor finanziert werden sollen. Zu den Prioritäten gehören die Förderung der Humanressourcen, die Entwicklung eines europäischen Risikokapitalmarktes, die Verbesserung des Umfelds für die Entwicklung neuer Technologien und die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen der Industrie und der staatlichen Forschung.
Die Wachstumsinitiative
Der Aktionsplan und das „3 %?Ziel“ sind in die „Wachstumsinitiative“ der Kommission eingegangen, die vom Europäischen Rat auf seiner Tagung vom 16./17. Oktober gebilligt wurde. Die Wachstumsinitiative zielt darauf ab, die wirtschaftliche Erholung Europas dadurch zu fördern, dass der Schwerpunkt auf Verkehrsinfrastrukturen und große Forschungsprojekte gelegt wird. In diesem Rahmen hat die Kommission vor kurzem eine Liste von Sofortmaßnahmenprojekten vorgelegt, zu denen F&E?Vorhaben in den Bereichen Weltraum, Nanotechnologien, Laser der nächsten Generation, Wasserstoff und Brennstoffzellen gehören.
Stop der Abwanderung hochqualifizierter Wissenschaftler steht auf der Tagesordnung weit oben
Am 10. November hat der Rat überdies eine Entschließung über den Beruf und die Karrieren von Forschern im Europäischen Forschungsraum angenommen. Dies erfolgte im Anschluss an die Mitteilung der Kommission „Forscher im Europäischen Forschungsraum – ein Beruf, vielfältige Karrieremöglichkeiten“ vom Juli 2003, in der Faktoren aufgezeigt werden, die sich auf die Entwicklung von F&E?Karrieren auswirken: Ausbildung, Rekrutierungsmethoden, Beschäftigungsbedingungen, Bewertungsmechanismen und berufliches Vorankommen.
Sie fließt auch in die Offensive zur Erhöhung der Zahl der Forscher in der Europäischen Union ein, um das Ziel der Steigerung der europäischen Forschungsausgaben auf 3 % des BIP der EU bis 2010 zu erreichen. Jüngsten Schätzungen zufolge wären hierfür 700 000 zusätzliche Forscher erforderlich.
Die besten Köpfe in Europa behalten und sie zur Rückkehr ermutigen
Zu den Initiativen der Kommission in diesem Bereich gehören die „Charta der Europäischen Forscher“, ein Verhaltenskodex für die Einstellung von Forschern und ein Europäisches Jahr der Forscher. Die Kommission fordert weitere Analysen und Datenerhebungen zu Fragen der Karriereentwicklung und Forschungsausbildung und eine weitere Verbesserung der Arbeiten des Mobilitätsportals für Forscher und des europäischen Netzes von Mobilitätszentren. Ferner fordert sie die Festlegung von Kriterien für die Dokumentation der beruflichen Leistungen, die Forscher im Laufe ihrer Karriere erbringen, sowie die Ermittlung und den Austausch vorbildlicher Verfahren in Bezug auf die Bewertungssysteme für Karrieren im F&E?Bereich.
Sie unterstützt den sozialen Dialog sowie den Dialog zwischen Forschern, Interessengruppen und der Gesellschaft insgesamt, einschließlich der besseren Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Wissenschaft und der Förderung des Interesses junger Menschen für die Forschung und wissenschaftliche Berufe. Sie befasst sich mit den Rahmenbedingungen für Doktoranden und fordert die Förderung der Chancengleichheit für Forscherinnen und Forscher. Darüber hinaus fördert sie Bemühungen, sonstige Hindernisse, die die Mobilität von Forschern beeinträchtigen, aus dem Weg zu räumen. Die Kommission erarbeitet zur Zeit einen Vorschlag für eine Richtlinie über die Einreisebedingungen und Visen für Forscher aus Drittländern, um auf diese Weise Forscher zu ermutigen, nach Europa zu kommen, um ihre Mobilität zwischen den Mitgliedstaaten zu steigern und EU?weit Nutzeffekte für Forschung und Entwicklung zu erzielen.
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