DFG sucht nach bibliometrischen Ansätzen für die Geistes- und Sozialwissenschaften
Sie stellt sich traditionell im Zusammenhang mit Qualifikations- und Berufungsverfahren, der Veröffentlichung wissenschaftlicher Werke oder der Forschungsförderung, heute jedoch insbesondere auch im Kontext der wissenschaftspolitischen wie hochschulinternen Steuerung und Ressourcenverteilung.
Im Wissenschaftssystem besteht folglich ein hoher Bedarf an tragfähigen, wissenschaftlich fundierten und akzeptierten Verfahren zur Bewertung von Forschungsleistungen. Bibliometrische Ansätze bilden dabei eine zentrale Säule.
Während diese für einige Wissenschaftsbereiche seit langem entwickelt, erprobt und auch in ihren Begrenzungen bekannt sind, fehlen die Grundlagen für entsprechende Verfahren, die den Gegebenheiten und den Differenzierungen geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen gerecht werden. Dass sich auch dieser Wissenschaftsbereich bibliometrischen Ansätzen nicht verschließen kann, hat der wissenschaftliche Beirat der Förderinitiative Geisteswissenschaften der DFG deutlich gemacht und in deren Unterstützungeine wichtige Aufgabe für die DFG gesehen.
Ein aktuell diskutierter Ansatz zur Bewertung von Zeitschriften als Publikationsorten für geistes- und sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse ist der European Reference Index for the Humanities (ERIH). Er wurde im Rahmen eines EU-geförderten Netzwerks von europäischen Forschungsförderorganisationen sowie der European Science Foundation (ESF) erarbeitet. Die DFG hat das übergeordnete Ziel unterstützt, jedoch bereits in einem frühen Stadium der Initiative ihre grundsätzlichen Bedenken gegen die gewählte Methodik und das eingeschlagene Vorgehen zum Ausdruck gebracht und sich an dem Netzwerk daraufhin konsequent nicht beteiligt.
Der Grundansatz von ERIH beruht auf einer breit angelegten Erfassung und Klassifizierung wissenschaftlicher Zeitschriften in Europa, die aus mehreren Gründen problematisch ist. Operationalisierung und Aussagekraft des verwendeten Kriteriums für die Qualität der publizierten Forschungsergebnisse erscheinen zweifelhaft. So wurden Listen von insgesamt einigen tausend Zeitschriften in 15 Fachgebieten erstellt und nach jeweils drei Kategorien klassifiziert, die den Grad der Verbreitung der Zeitschriften in nationalen oder internationalen Fachcommunities abbilden sollen. Dieses Kriterium hat die Eigenschaft, auch kleine, national oder sprachlich gebundene Publikationsorgane zu erfassen, ist jedoch ungeeignet, den wissenschaftlichen Wert der veröffentlichten Ergebnisse oder auch nur die Reputation der Publikationsorte abzubilden.
Die Klassifizierungen wurden von kleinen, ad hoc zusammengesetzten Expertenpanels vorgenommen, eine systematische Konsultation und Abstimmung mit den nationalen und europäischen Communities, Fachgesellschaften, Förderorganisationen usw. fand nicht statt. Die resultierenden Listen sind zwangsläufig von Zufälligkeiten in der nationalen und disziplinären Zusammensetzung der Panels mitbestimmt und von heterogener Qualität. Ihre Fachsystematik schwankt zwischen Disziplinen und Themenfeldern. Über die Geisteswissenschaften hinaus wurden einige sozialwissenschaftliche Disziplinen miterfasst, ohne das entsprechende wissenschaftliche Gremium der ESF zu beteiligen.
Eine vorläufige Fassung der ERIH-Listen wurde erstmals 2008 veröffentlicht und hat kontroverse Reaktionen sowie deutliche Ablehnung in einzelnen Fächern ausgelöst. Legitimation und Akzeptanz des Verfahrens sind zu bezweifeln. Zugleich gibt es Hinweise darauf, dass angesichts des starken Bedarfs an publikationsbasierten Leistungsindikatoren im Wissenschaftssystem bereits vereinzelt zu diesem Zweck die ERIH-Listen herangezogen werden. Ein solches Vorgehen steht im Widerspruch dazu, wissenschaftliche Qualität zu fördern, und kann in hohem Maße schädlich für die betroffenen Fächer sein. Der aus geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern zu Recht geäußerte Einwand, dass bisherige bibliometrische Ansätze durch ihre einseitige Fokussierung auf Zeitschriften den Kommunikations- und Publikationsformen dieser Fächer nicht gerecht werden, wird durch das Vorgehen im Rahmen von ERIH weiter verschärft.
Auch wenn die Verwendung von ERIH zu Evaluationszwecken ausdrücklich nicht intendiert ist, liegt auf der Hand, dass solche im Ansatz unterkomplexen und missbräuchlich zu verwendenden Klassifikationen nicht weiter verbreitet und entwickelt werden sollten. Die DFG unterstützt deshalb aktiv die Suche nach tragfähigen und adäquaten Alternativen für bibliometrische Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Gemeinsam mit drei anderen Förderorganisationen aus Frankreich (ANR), Großbritannien (AHRC/ESRC) und den Niederlanden (NWO) hat die DFG dazu inzwischen konkrete Schritte eingeleitet. Ein „European Scoping Project: Towards a Bibliometric Database for the Social Sciences and the Humanities“ wurde konzipiert und gemeinsam finanziert. Dabei wurde die ESF von den vier Förderorganisationen konstruktiv als formeller Träger des Projektes eingebunden.
Ein aus internationalen Experten und Vertretern der Wissenschaft bestehendes Project Board hat unter Leitung von Professor Ben Martin, Universität Sussex, im November 2008 seine Arbeit aufgenommen. Es wird Mitte dieses Jahres einen Bericht mit Empfehlungen vorlegen, wie im europäischen, mehrsprachigen Forschungsraum die bibliometrischen Voraussetzungen für die adäquate Beurteilung von Forschungsleistungen speziell in den Geistes- und Sozialwissenschaften geschaffen werden könnten. Dabei sollen sowohl die Diversität europäischer Wissenschaftssprachen als auch die spezifischen Kommunikations- und Publikationsformen der einzelnen Disziplinen als besondere Herausforderungen mit bedacht werden. Beispielhaft sind hier die in vielen Fächern zentralen Publikationsformen der Monografie und des Sammelbandes zu nennen, die in bibliometrischen Verfahren Berücksichtigung finden müssen – ein Erfordernis, dem das zeitschriftenbasierte Vorgehen von ERIH entgegenläuft.
Im Rahmen seiner Arbeit wird das Project Board eine Bestandsaufnahme sowie eine Bewertung der bisher in Europa vorhandenen, modellhaften bibliometrischen Datenbanken und Verfahren innerhalb des Wissenschaftsgebiets vornehmen und damit zum Teil externe Expertengruppen beauftragen. Ergänzend werden Konsultationen und ein Stakeholder Workshop durchgeführt. Nach Projektabschluss wird die DFG im Namen des Project Board einen größeren Workshop ausrichten, auf dem die erarbeiteten Ergebnisse und Empfehlungen einem größeren Kreis von Vertretern geistes- und sozialwissenschaftlicher Fächer vorgestellt werden sollen.
Kontakt:
Dr. Stefan Koch
Gruppe Geistes- und Sozialwissenschaften
Tel.: 49 228 885-2459
Email: Stefan.Koch@dfg.de
Quelle: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
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