Inklusive Bildung nach wie vor in vielen Bundesländern die Ausnahme
Der Ausbau inklusiver Bildungsangebote kommt in Deutschland in zahlreichen Bundesländern nur schleppend voran: So ging im Schuljahr 2009/2010 von den 485.000 Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Deutschland nur jeder Fünfte auf eine Regelschule.
Die große Mehrheit wird weiterhin in separaten Förderschulen unterrichtet. Dabei wäre der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Förderbedarf dringlich geboten: Denn der Anteil der Kinder mit diagnostiziertem Förderbedarf ist im Vergleich zum Vorjahr leicht gestiegen und über die Hälfte aller Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss kommt in Deutsch¬land aus Förderschulen.
Zudem wurde in Deutschland mit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein Rechtsanspruch auf inklusive Bildung geschaffen. „Mangelnde Inklusion ist eines der drängendsten Probleme im deutschen Schulsystem. Trotzdem erfolgt der Ausbau inklusiver Bildung zu langsam. Alle Bundesländer müssen diese Aufgabe jetzt schnell und konsequent angehen“, mahnt Jörg Dräger, für Bildung zuständiges Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung und Autor des am 29. August erschienenen Buches „Dichter, Denker, Schulversager“.
Das schleppende Ausbautempo stellt viele Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern vor ein Problem. Denn inklusive Bildung endet zu häufig nach der Kita. Während in den Kindertageseinrichtungen im Bundesdurchschnitt 68 Prozent der Kinder mit Förderbedarf gemeinsam mit Gleichaltrigen eine inklusive Einrichtung besuchen können, sinkt ihr Anteil in Grundschulen auf 35 Prozent und in den weiterführenden Schulen auf bundesweit nur 17,2 Prozent (ohne den Schwerpunkt Geistige Entwicklung). Eine große Anzahl von Kindern muss deswegen früher oder später auf eine separate Förderschule wechseln.
Dabei zeigen einige Bundesländer schon heute, dass mehr Inklusion machbar ist: In der Grundschule werden in Bremen 89 Prozent der Kinder mit Förderbedarf inklusiv unterrichtet. Mit einem Inklusionsanteil von über 70 Prozent nehmen auch Schleswig-Holstein und das Saarland Spitzen-plätze ein. Brandenburg (54,4 Prozent), Berlin (50,4 Prozent) und Baden-Württemberg (47,6 Prozent) sind ebenfalls auf einem guten Weg. Die anderen Bundesländer weisen Werte auf, die zum Teil deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegen. Schlusslichter sind Hamburg, das trotz deutlicher Fortschritte nur 18,7 Prozent der Grundschüler mit Förderbedarf gemeinsam unterrichtet, sowie Bayern mit 21,9 Prozent.
An den weiterführenden Schulen ist der Mangel an gemeinsamen Unterrichtsangeboten mit Abstand am größten. Hinter dem Spitzenreiter Schleswig-Holstein (47 Prozent) gelingt es auch in Berlin (42,5 Prozent) und in Brandenburg (37,3 Prozent) viele förderbedürftige Jugendliche in Regelschulen zu unterrichten. Mecklenburg-Vorpommern, das Saarland und Thüringen weisen in der Sekundarstufe Inklusionsanteile zwischen 22 und 28 Prozent auf. Die übrigen Bundesländer liegen unter dem Bundesdurchschnitt. Den niedrigsten Inklusionsanteil bei den weiterführenden Schulen haben Nordrhein-Westfalen (10,9 Prozent), Hessen (9,8 Prozent) und Sachsen-Anhalt (9 Prozent).
Bei einem Blick auf die einzelnen Förderschwerpunkte zeigen sich weitere extreme Länderunterschiede, die sich nicht durch die Förderbedarfe der Kinder und Jugendlichen erklären lassen. Im Förderschwerpunkt Lernen beispielsweise schwanken die Inklusionsanteile zwischen 2 Prozent (Sachsen) und 60 Prozent (Bremen). Bundesweit werden im Durchschnitt 42,6 Prozent aller Schüler diesem Förderschwerpunkt zugeordnet. Im Förderschwerpunkt Sehen werden in
Schleswig-Holstein alle Kinder inklusiv unterrichtet, in Bayern nur 11,9 Prozent. „Die großen Unterschiede zwischen den Bundesländern sind kaum nachvollziehbar und können nur das Ergebnis verschiedener Verfahren und Vorgehensweisen sein“, kommentiert Dräger. „Sie zeigen aber auch, dass mehr Inklusion machbar ist, wenn sie gewünscht wird. Inklusion lässt sich aber nicht von oben verordnen. Schulen müssen dafür ausgestattet werden, Eltern und Pädagogen müssen dafür gewonnen werden. Wenn wir die Rahmenbedingungen für gemeinsamen, individuell fördernden Unterricht schaffen, profitieren nachweislich alle Kinder.“
Die aktuelle Datenauswertung belegt, dass die Anzahl der Angebote und die Ausbaugeschwindigkeit beim gemeinsamen Unterricht erhöht werden müssen. Inwieweit die Qualität der neu geschaffenen inklusiven Bildungsangebote dabei mit dem Ausbautempo Schritt hält, kann auf der Grundlage der Daten nicht beurteilt werden. „Eine rein quantitative Betrachtung des Problems ist nicht ausreichend“, mahnt Jörg Dräger. „Wenn wir kein Kind in unserem Bildungssystem zurücklassen und bei Eltern und Pädagogen Akzeptanz für Inklusion finden wollen, benötigen wir dringend mehr Transparenz über die Qualität der Angebote.“
Wie gemeinsames Lernen aller Kinder gelingen kann, zeigen die Preisträgerschulen des „Jakob Muth-Preis für inklusive Schule“. Mit dem Preis werden Schulen ausgezeichnet, in denen behinderte und nicht-behinderte Kinder vorbildlich gemeinsam lernen. Der Preis wird dieses Jahr zum dritten Mal von dem Bundesbeauftragten für die Belange behinderter Menschen, der Bertelsmann Stiftung, der Deutschen UNESCO-Kommission und der Sinn-Stiftung ausgeschrieben. Schulen und Schulverbünde können sich bundesweit noch bis zum 15. September 2011 unter www.jakob-muth-preis.de bewerben.
Rückfragen an: Anette Stein, Telefon: 0 52 41 / 81-81 274
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