Open Science: Forschungsdaten für alle

Der Forscher Michael Hanke (links) macht sich für Open Science stark. Neben ihm im Bild stehen seine Mitarbeiter Falko Kaule (Mitautor der Publikation, Mitte) und Alexander Waite. Center for Behavioral Brain Sciences, OVGU Magdeburg / Foto: D. Mahler

Forscher, die freiwillig ihre kompletten Rohdatensätze im Internet teilen, bevor sie sie selbst ausgewertet haben?

Bis vor einiger Zeit war dies undenkbar und auch heute noch scheuen viele Wissenschaftler einen allzu freizügigen Datenaustausch bevor sie ihre Ergebnisse nicht publiziert und damit ihre Reputation in Fachkreisen gestärkt haben. Der Magdeburger Psychologe Professor Michael Hanke von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg beschreitet zusammen mit Dr. Jörg Stadler vom Leibniz Institut für Neurobiologie und Kollegen einen anderen Weg:

Gemeinsam veröffentlichen sie in der Erstausgabe des Fachmagazins Scientific Data der Nature Publishing Group den bislang umfangsreichsten Rohdatensatz zur Verarbeitung von Sprache im Gehirn. Auf der Webseite http://www.studyforrest.org steht er jedem Interessierten frei zur Verfügung.

„Wir haben vom Bundesministerium für Bildung und Forschung Gelder bekommen, um Daten zu erheben. Jetzt sehen wir uns in der Pflicht, die Wertschöpfung aus den Untersuchungen für die Gesellschaft zu maximieren“, erklärt Hanke, dessen Projekt im Rahmen einer Deutsch-US-amerikanischen Kooperation innerhalb des Bernstein Netzwerks Computational Neuroscience finanziert wurde. Fachliche Anerkennung bekommen die Hirnforscher nun durch die Zitate in den Fachartikeln, die auf seinem Rohdatensatz basieren.

Die als Open Science bekannte Herangehensweise hat den Vorteil, dass sie den Fortschritt in der Wissenschaft beschleunigt: Konkurrierende Forschungslabore können zeitgleich an einem Thema arbeiten, ohne sich gegenseitig durch Zurückhaltung bei der Datenherausgabe auszubremsen. Auch müssen Wissenschaftler bei Anfragen – die zum Teil Jahre nach der Erstveröffentlichung gestellt werden – nicht mehr mühsam die damalige Erhebung rekonstruieren: Die Rohdaten sind bereits für eine gemeinsame Nutzung aufbereitet worden. Das spart Zeit und Kosten, die zugunsten weiteren Erkenntnisgewinns eingesetzt werden können.

Bei dem aktuell veröffentlichten Magdeburger Datensatz geht es um die Verarbeitung von akustischen Reizen. In der Studie hörten sich Versuchspersonen eine Hörfilmversion des Klassikers Forrest Gump an, während mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) ihre Hirnaktivität bei der Verarbeitung von Sprache, Musik, Emotionen, Erinnerungen und bildlicher Vorstellungen gemessen wurde. Der Datensatz spiegelt damit nicht nur eine isolierte Hirnfunktion wider, sondern reflektiert die tatsächliche Komplexität des Informationsstroms bei alltäglichen Hörerfahrungen. Neben den gesamten fMRT-Daten stellen die Wissenschaftler umfassende anatomische Beschreibungen der Gehirne aller Versuchsteilnehmer zur Verfügung, ebenso wie Messwerte über Atmung und Herzschlag. Sie zeigen an welchen Stellen des Films der Zuhörer aufgeregter oder entspannter war.

Denkbar sind jetzt Untersuchungen zur Verarbeitung von Emotionen bei Hörerfahrungen – oder auch ganz andere Fragen. Neben Hanke arbeiten derzeit mindestens zwei weitere Forschergruppen in England und Australien an der Auswertung seiner Daten. Was ihre konkrete Fragestellung ist, weiß er nicht. Hanke ist sich aber sicher: „Fachleute anderer Disziplinen, wie etwa Ingenieure, haben eine ganz andere Sicht auf unsere Daten – und gleichzeitig alle Voraussetzungen, sie für ihren Bereich optimal zu nutzen.“ Um solche interdisziplinären Forschungsprojekte zu fördern, hat das Magdeburger Center for Behavioral Brain Sciences ein Preisgeld von 5000 Euro für die beste Nutzung des veröffentlichten Datensatzes ausgelobt.

Das Deutsch-US-amerikanische Kooperationsprojekt „Entwicklung allgemeingültiger, hoch-dimensionaler Modelle neuronaler Repräsentationsräume“ ist ein internationales Forschungsvorhaben, an dem Wissenschaftler der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, dem Dartmouth College (USA) und der Princeton University (USA) beteiligt sind. Es ist Teil des Nationalen Bernstein Netzwerkes Computational Neuroscience. Seit 2004 fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit dieser Initiative die neue Forschungsdisziplin Computational Neuroscience mit über 180 Mio. €. Das Netzwerk ist nach dem deutschen Physiologen Julius Bernstein (1835-1917) benannt.

Weitere Informationen erteilen Ihnen gerne:
Jun.-Prof. Dr. Michael Hanke
Otto-von-Guericke-Universität
Institut für Psychologie II
39106 Magdeburg
Tel: +49 (0)391 67-18481
Email: michael.hanke@ovgu.de

Originalpublikation:
M. Hanke, F. J. Baumgartner, P. Ibe, F. R. Kaule, S. Pollmann, O. Speck, W. Zinke & J. Stadler (2014): A high-resolution 7-Tesla fMRI dataset from complex natural stimulation with an audio movie. Scientific Data, 1: 140003.
DOI: 10.1038/sdata.2014.3

http://www.psychoinformatics.de Arbeitsgruppe „Psychoinformatik“ von Michael Hanke
http://www.uni-magdeburg.de Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
http://www.lin-magdeburg.de Leibniz Institut für Neurobiologie
http://www.cbbs.eu Center for Behavioral Brain Sciences, Magdeburg
http://www.nncn.de Nationales Bernstein Netzwerk Computational Neuroscience

Media Contact

Mareike Kardinal idw - Informationsdienst Wissenschaft

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Bildung Wissenschaft

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Größte bisher bekannte magnetische Anisotropie eines Moleküls gemessen

An der Berliner Synchrotronstrahlungsquelle BESSY II ist es gelungen, die größte magnetische Anisotropie eines einzelnen Moleküls zu bestimmen, die jemals experimentell gemessen wurde. Je größer diese Anisotropie ist, desto besser…

Tsunami-Frühwarnsystem im Indischen Ozean

20 Jahre nach der Tsunami-Katastrophe… Dank des unter Federführung des GFZ von 2005 bis 2008 entwickelten Frühwarnsystems GITEWS ist heute nicht nur der Indische Ozean besser auf solche Naturgefahren vorbereitet….

Resistente Bakterien in der Ostsee

Greifswalder Publikation in npj Clean Water. Ein Forschungsteam des Helmholtz-Instituts für One Health (HIOH) hat die Verbreitung und Eigenschaften von antibiotikaresistenten Bakterien in der Ostsee untersucht. Die Ergebnisse ihrer Arbeit…