Studie bestätigt: Windenergiesektor bedarf dringend eigener Qualifikationsprofile
Sie kommen überwiegend aus den metall- und elektrotechnischen Berufen, und erst nach aufwendigen, vielfältigen Fort- und Weiterbildungen sind sie wirklich fit für die anspruchsvolle Arbeit an Windenergieanlagen an Land und auf See. Sie bedarf besonderer Fähigkeiten, und bislang deckt keine Berufsausbildung dieses spezielle und so dringend erforderliche Qualifizierungsprofil umfassend ab.
Das belegt eine Studie des Instituts Technik und Bildung (ITB) der Universität Bremen. Anlässlich der Fachtagung „Fachkräfte für Windenergieanlagen an Land und auf See“ haben die Berufsbildungsexperten die Ergebnisse ihrer Untersuchungen vorgestellt und Lösungen sowie Handlungsempfehlungen präsentiert.
Was müssen Fachkräfte für die Errichtung, Inbetriebnahme und Instandhaltung von Offshore-Windenergieanlagen können, was unterscheidet ihre Arbeit von der ihrer Kolleginnen und Kollegen an den Onshore-Windenergieanlagen, wie ist der Qualifizierungsbedarf und welche Berufsbilder ergeben sich daraus? Unter anderem mit diesen Fragen beschäftigten sich die ITB-Forscher während des dreijährigen Forschungsprojektes „Offshore-Kompetenz“ (Langtitel: „Analyse beruflicher Kompetenzen und des Qualifikationsbedarfs von Fachexperten bei Montage, Inbetriebnahme und Instandhaltung von Offshore-Windenergieanlagen“). Es wurde vom Bundesforschungsministerium und vom Bundesinstitut für Berufsbildung gefördert und soll einen Beitrag dazu leisten, die Aus- und Weiterbildung gewerblich-technischer Fachkräfte für Windenergieanlagen dem Qualifikationsbedarf der Windenergiebranche anzupassen.
Status: „Übernahme von Fachkräften aus anderen Sektoren und patchworkartige Weiterbildung“
Die Antworten der Bremer Berufsbildungsexperten auf diese Fragen sind unmissverständlich. Auf der Basis ihrer Forschungen und Erhebungen kommen sie zu dem Schluss: „Der Sektor ‚Windenergieerzeugung‘ sowohl im On- als auch im Offshore-Bereich benennt einen hohen Qualifizierungsbedarf, hat Interesse an einer sektorbezogenen beruflichen Erstausbildung, setzt jedoch noch immer auf die Übernahme von Fachkräften aus anderen Sektoren und auf eine patchworkartige Weiterbildung.“ Ihre Empfehlung: der Aufbau von strukturierten Bildungs- und Qualifizierungskonzepten über alle Bildungsstufen hinweg.
Dabei sei höchste Eile geboten, meinen nicht nur die Wissenschaftler. Inzwischen gehe es hier trotz des Innovationsvorsprungs auch zunehmend um die Stellung der deutschen Windenergieindustrie in der Welt sowie um die Standortsicherung. „Um eine Professionalisierung des Sektors ‚Windenergieerzeugung‘ auch in Fragen der Aus- und Weiterbildung zu unterstützen und die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, braucht er dringend eigene strukturelle Qualifizierungskonzepte“, sagt Professor Georg Spöttl, Leiter der ITB-Abteilung Arbeitsprozesse und berufliche Bildung.
Künftig ein „Mechatroniker für Windenergieanlagen“?
„Schon heute sind allein in Deutschland insgesamt mehr als 100.000 Menschen direkt und indirekt im Sektor Windenergie beschäftigt, in ganz Europa etwa 200.000 Personen“, sagt ITB-Wissenschaftler Frank Molzow-Voit. Die ITB-Befragungen im Rahmen der Studie mit über 50 Sektorvertretern hätten ergeben, dass etwa 60 Prozent der untersuchten Windenergieunternehmen derzeit einen nicht ausreichend gedeckten Fachkräftebedarf haben. Im Bereich der Errichtung, Inbetriebnahme und Instandhaltung von Windenergieanlagen an Land und auf See sei die Nachfrage sogar noch größer. Zirka 70 Prozent der Befragten plädierten für einen eigenständigen Ausbildungsberuf mit Windinhalten, berichtet er.
Während der Forschungen hat sich auch angesichts der erforderlichen Ausbildungsinhalte gezeigt, dass die Branche einen „Mechatroniker für Windenergieanlagen“ braucht. Das Potenzial sei enorm, sagt Molzow-Voit. „Die Branche steht an der Schwelle zur Industrialisierung und benötigt auch in Fragen der Aus- und Weiterbildung eine Professionalisierung“, ergänzt Spöttl. Doch die Akteure kochten noch alle „ihr eigenes Süppchen“, nimmt der international anerkannte Bildungsforscher kein Blatt vor den Mund. Der Sektor hat einen sehr hohen und spezifischen Qualifizierungsbedarf, leiste aber nur einen geringen Beitrag zur Professionalisierung der Branche durch abgestimmte Qualifizierungsmaßnahmen. Auch die Nachhaltigkeitsinhalte zählten noch nicht zum Gegenstand der Aus- und Weiterbildung.
„Der Sektor ‚Windenergieerzeugung‘ greift auf Berufe zu, die in anderen Sektoren qualifiziert wurden. Die Branche benötige jedoch eigene Profile. Die Sozialpartner hätten nun schleunigst zu klären, ob und wie eine Erstausbildung etabliert werden soll. Sie seien gefordert und müssen endlich initiativ werden. „Die Patchwork-Landschaft ist durch strukturierte Konzepte abzulösen!“ Auch beim Hochschulstudium gebe es aktuell zu viele Akteure und Aktivisten. Eine Abstimmung über die Hochschulstandorte hinweg sei dringend erforderlich.
„Den Schatz unserer Erfahrung besser und gewinnbringender einsetzen!“
Uwe Sarrazin, Operativer Regionalleiter Europa für Projektausführung bei GE Wind Energy GmbH, bemerkt dazu: „Dass das deutsche duale Bildungssystem hervorragend ist und hochqualifizierte Fachleute hervorbringt, aber auch relativ schwerfällig auf aktuelle Entwicklungen reagiert, ist kein Geheimnis. Die Berufsausbildung und Qualifizierung in unserer Branche wurde bisher teilweise vernachlässigt. Wir hier in Deutschland sind schon fast zu spät, sollten schnell weiterdenken und den Schatz unserer Erfahrung besser und gewinnbringender einsetzen.“ Darunter versteht er, dass zügig Qualifizierungsprofile entwickelt werden, die den erforderlichen, besonderen Fertigkeiten und extremkörperlichen Herausforderungen gerecht werden. Dabei hat er neben dem Fachlichen und der Flexibilität auch Sprachfertigkeiten und die körperliche Fitness im Blick.
„Es ist ein junges Business mit einem sehr großen, bedeutenden Markt, das die Kompetenzen anderer Branchen produktiv nutzen kann.“ Sarrazin sieht ebenfalls den Bedarf für einen „Mechatroniker Windkraft“ – eine WEA-spezifische Mechatronikerausbildung, und er wünscht sich darüber hinaus eine übergreifende Zusammenarbeit der Unis und Hochschulen. „Die ITB-Studie hat mich nicht überrascht und in meinen Ansichten und Erwartungen bestätigt.“
„Bei weiterhin so schwerfälligem Handeln droht wieder ein Desaster“
„Die Branche ist bereit für eigene Qualifizierungsprofile, On- wie Offshore, und der Konkurrenzdruck am Markt fordert sie schnellstmöglich“, sagt Frank Gerdes, im IG-Metall-Bundesvorstand Frankfurt als Sozialvertragspartner verantwortlich unter anderem für die Bildungs- und Qualifizierungspolitik sowie die Arbeitsgestaltung im Sektor Windkraft. „Auf der Basis der vom ITB vorgestellten Studie, der Handlungsempfehlungen sowie der erarbeiteten, bereits sehr konkreten Inhalte lässt sich zeitnah ein Berufsbild generieren“, ist er überzeugt.
„Im Haus diskutieren wir dieses Problem seit Langem und ich bin überrascht, wie sehr wir in unserer Einschätzung mit den Arbeitgebern in der Branche doch übereinstimmen, und wie gut die Ausgangsbedingungen sind.“ Das hätten die Tagung in Bremen und der intensive Austausch dort mit Kolleginnen und Kollegen aller Interessenslager gezeigt. Mit einem Berufsprofil „Mechatroniker für Windenergieanlagen“ und von seiner baldigen Etablierung würde die deutsche Windkraftbranche in erheblichem Maße profitieren und könne seine Innovationskraft erheblich besser darstellen und nutzen, meint Gerdes.
„Nehmen wir diese Chance nicht wahr und handeln wieder so schwerfällig wie bisweilen in anderen Bereichen, erleben wir möglicherweise ein ähnliches Desaster wie im Sektor Photovoltaik“, gibt Gerdes zu bedenken. „Mechatroniker zählen zu den Highlight-Berufen. Sie sind gefragt und dauerhaft beschäftigungsfähig“, weiß der Gewerkschafter. Er sei sich recht sicher, dass ein hier ausgebildeter „Mechatroniker für Windenergieanlagen“ auch am internationalen Markt höchst begehrt wäre, und dass ein solches Ausbildungs- und Qualifizierungsangebot Interessenten aus aller Welt anziehen und die deutsche Wirtschaft bereichern würde.
Weitere Informationen und Ansprechpartner:
Universität Bremen
Institut Technik und Bildung
Prof. Dr. Georg Spöttl
Tel.: 0421 218-66 271
E-Mail: spöttl@uni-bremen.de
Frank Molzow-Voit
Tel.: 0421 218-66 283
E-Mail: molzow-voit@uni-bremen.de
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Weitere Informationen:
http://www.itb.uni-bremen.deAlle Nachrichten aus der Kategorie: Bildung Wissenschaft
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