Zwischen Welfenschatz und Aktfotos: DISKUS – ein deutscher Beitrag zur europäischen Kunstgeschichte
VolkswagenStiftung fördert Erforschung und Erschließung von Werken der Kunst und Architektur ein Jahrzehnt lang mit 5,63 Millionen Euro
Von Bill Gates kann man immer etwas lernen – manchmal auch, wie man es nicht machen sollte. Will der Microsoft-Gründer tatsächlich seine legendäre, 17 Millionen Bilder umfassende Fotosammlung unter der Erde vergraben? In einem 70 Meter tiefen und mehrere Kilometer langen Stollen sollen sie gelagert und so vor dem Zerfall geschützt werden. Das klingt gut, aber für die Öffentlichkeit sind die Zeugnisse damit erst einmal „scheintot“. Bis eines Tages Bill Gates sie vielleicht wieder auferstehen lässt – und das dürfte er sich dann wohl teuer bezahlen lassen.
Als nicht gerade billig erwiesen sich auch die Anstrengungen europäischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, eine Fülle ganz unterschiedlicher Kunstschätze zu erfassen und zu erhalten – diese dabei aber nicht zu „bestatten“, sondern sie gerade der Öffentlichkeit und insbesondere der Forschung zugänglich zu machen. Unter Federführung des Bildarchivs Foto Marburg und des Wissenschaftlers Professor Dr. Lutz Heusinger hat die VolkswagenStiftung mit insgesamt rund 5,63 Millionen Euro den Aufbau einer Institutionen und Länder übergreifenden Erforschung und Erschließung von Werken der Kunst und Architektur gefördert, und zwar
- in großen Museen (1990 bis 1992 in Berlin, Hamburg, Köln, München und Nürnberg);
- in den Landesdenkmalämtern der neuen Bundesländer (1991 bis 1994 in Berlin, Berlin-Brandenburg, Dresden, Erfurt, Halle und Schwerin);
- in insgesamt 14 kunstgeschichtlichen Universitäts- und Forschungsinstituten: acht deutschen (1996 bis 1999: FU Berlin, Bochum, Bonn, Frankfurt a. M., Freiburg, Göttingen, Leipzig und Osnabrück) sowie sechs ausländischen (1997 bis 2000: Bern, Florenz, Innsbruck, Prag, Utrecht, Wroclaw; assoziiert: das Max-Planck-Institut Bibliotheca Hertziana in Rom)
Aus dem Zusammenwirken der beteiligten Institutionen ist das „Digitale Informationssystem für Kunst- und Sozialgeschichte“ (DISKUS) hervorgegangen, das seit kurzem allen Interessierten im Internet kostenlos zur Verfügung steht. Unter http://bildindex.de finden sich 1,4 Millionen fotografischer Reproduktionen. „Damit liegt ein umfassender Bildindex der Kunst und Architektur in Deutschland vor, ein für Wissenschaft wie breite Öffentlichkeit zugänglicher Wegweiser zu vielen Werken und ihren Inhalten“, sagt Dr. Wilhelm Krull, Generalsekretär der VolkswagenStiftung. Unter den reproduzierten Werken finden sich beispielsweise 53.373 Porträts, 8.000 jüdische Grabsteine, 2.200 antisemitische Spottpostkarten, 275 alte Ansichten von München, 153 künstlerische Aktphotographien der zwanziger Jahre, 3.500 Kölner Karnevalsorden, der Welfenschatz, 34.147 Objekte des Germanischen Nationalmuseums und 31.869 der Berliner Museen, 1.366 Musikinstrumente, 2.741 Napoleon-Bilder, 920 Luther-Bilder, 151 Stalin- und 195 Adenauer-Bilder, 1.597 Liebespaar-Darstellungen, 72 Schach-Bilder, 5.500 Miniaturen, 1.685 Münzen, 430 Elfenbeine, 64 Humpen, 24 Huldigungsblätter, 3.636 Plakate, 7.144 Karikaturen, 82 Klappaltäre, 1.562 Papstbilder – und auch ein Papsteselbild.
1,4 Millionen Bilder sind viel, im Vergleich zur vorhandenen Kunst und Architektur aber fast nichts. Deshalb ist das von den beteiligten Wissenschaftlern entwickelte Verfahren für den weiteren Ausbau des Informationssystems noch wichtiger als dessen gegenwärtiger Umfang: Die mitwirkenden Institutionen haben sich auf einen Standard der Bestandsbeschreibung – das so genannte Marburger Informations-, Dokumentations- und Administrationssystem (MIDAS) – verständigt. Sie arbeiten mit demselben Thesaurus und denselben Normdateien, tauschen unter der Ägide des Bildarchivs Foto Marburg, des Deutschen Dokumentationszentrums für Kunstgeschichte, regelmäßig ihre neuen Arbeitsergebnisse aus und verstehen das „Digitale Informationssystem für Kunst- und Sozialgeschichte“ als wichtigstes künftiges Kommunikationsforum kunstgeschichtlicher Einrichtungen. „Solch eine freiwillige Zusammenarbeit kunstgeschichtlicher Institutionen mit dem Ziel, der interessierten Bevölkerung einen derart umfassenden und umfangreichen Katalog zur Verfügung zu stellen, ist weltweit einmalig“, sagt Lutz Heusinger. Der jährliche Zuwachs wird nach ersten Schätzungen mindestens 50.000 Bilder und 30.000 gründlich erschlossene Beschreibungen von Kunstobjekten betragen.
Mit Unterstützung der VolkswagenStiftung ist so eine neuartige Infrastruktur entstanden, die in den kommenden Jahren zielstrebig ausgebaut werden kann. Und ganz im Sinn der programmatischen Einbeziehung ausländischer Universitäts- und Forschungsinstitute wird zudem in Kooperation etwa mit der amerikanischen Andrew W. Mellon Foundation unter dem Namen ArtSTOR international zur Zeit ein digitaler Bildindex zur abendländischen Kunst aufgebaut – mit DISKUS als deutscher Komponente. Foto Marburg entwickelt in Zusammenarbeit mit dem kalifornischen J. Paul Getty Center und Kollegen anderer europäischer Länder für ArtSTOR ein mehrsprachiges Zugangsinstrument, das eine Benutzung in fünf Sprachen ermöglichen wird.
Damit nicht genug: Parallel zum Aufbau von ArtSTOR erarbeiten die kunstgeschichtlichen Institute der Universitäten Berlin (FU), Dresden, Hamburg, Marburg und München auf der Grundlage von DISKUS kunstgeschichtliche Lehrveranstaltungen, die im Internet unter dem Titel „Schule des Sehens“ jedem Interessierten zur Verfügung stehen sollen. Das von der Volkswagen-Stiftung geförderte Programm „EDV-gestützte Dokumentation in Forschung und Lehre ausgewählter kunstgeschichtlicher Universitätsinstitute“ hat folglich Fundamente geschaffen, auf denen sich aufbauen lässt. So meint auch Initiator Heusinger abschließend: „In einer Zeit, in der Bilder zum maßgebenden Medium der Politik und selbst der Wirtschaft geworden sind, soll die ’Schule des Sehens’ im Internet ein Ort werden, an dem nicht nur angehende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sondern alle kulturell Interessierten einen kritisch reflektierten Umgang mit Bildern erlernen können.“
Überblick über die beteiligten kunstgeschichtlichen Universitäts- und Forschungsinstitute im In- und Ausland:
Federführung: Universität Marburg, Bildarchiv Marburg, Prof. Dr. Lutz Heusinger (Tel.: 01 73/6 51 44 24) Deutschland: Freie Universität Berlin, Prof. Dr. Eberhard König (Tel.: 030/8383803/04) Universität Bochum, Prof. Dr. Reinhart Schleier (Tel.: 0234/3222646) Universität Bonn, Prof. Anne-Marie Bonnet (Tel.: 0228/737335) Universität Frankfurt a. M., Prof. Dr. Liselotte Saurma-Jeltsch (Tel.: 069/7988336) Universität Freiburg, Prof. Dr. Wilhelm Schlink (Tel.: 0761/2033081) Universität Göttingen, Prof. Dr. Werner Schnell (Tel.: 0551/395904) Universität Leipzig, Prof. Dr. Thomas Topfstedt (Tel.: 0341/9735550) Universität Osnabrück, Prof. Dr. Jutta Held (Tel.: 0541/9694441)
Europa: Universität Bern, Prof. Dr. Oskar Bätschmann (Tel.:0041/31/6314741) Universität Florenz, Dr. Martina Hansmann (Tel.: 0039/055/249111) Universität Innsbruck, Prof. Dr. Paul Naredi-Rainer (Tel.: 0043/512/5074411) Nationalgalerie Prag, Dr. Jiri Fajt, derzeit GWZO Leipzig (Tel.: 0341/9735560) Universität Utrecht, Prof. Dr. J. Stumpel (Tel.: 0031/30/2536300) Universität Warschau, Prof. Dr. Miecyclaw Zlat (Tel.: 0048/22/713402510) assoziiert: das Max-Planck-Institut Bibliotheca Hertziana in Rom
Kontakt Förderinitiative VolkswagenStiftung: Dr. Vera Szöllösi-Brenig, Tel.: 0511 /8381-218, E-Mail: szoelloesi@volkswagenstiftung.de
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