Promotionspreise der Ulmer Universitätsgesellschaft 2002
Aktuelle Fragen der Medizin und Gesundheitsökonomie, der Prozeß- und Regelungstechnik, der Ökologie und der Quantenphysik stehen im Mittelpunkt der acht Ulmer – Dissertationen, die anläßlich des Jahrestages der Universität Ulm am 5. Juli 2002 mit dem diesjährigen Promotionspreis der Ulmer Universitätsgesellschaft (UUG) ausgezeichnet werden. Die Preisträger sind Nektarios Dikopoulos, Raphael Röbe, Magdalena Karolczak, Thomas Klose, Manfred Reichert, Jörg Wiedenmann und Roman C.V. Schubert.
Botenstoffe aus dem Darm
Um Komplikationen chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen (Morbus Crohn, Colitis ulcerosa) geht es bei Nektarios Dikopoulos. Dazu gehören Veränderungen der Leber und des Gallenwegsystems, in Form reiner Funktionsstörungen, beispielsweise Fehlregulationen des Gallenflusses, aber auch struktureller Veränderungen mit entzündlichen Verengungen der ableitenden Gallenwege. Die Mechanismen, die zu derartigen Komplikationen führen, wurden bisher nur unzureichend erforscht. Dikopoulos hat sich nun im Tierexperiment mit dieser Thematik befaßt. Es gelang ihm, Botenstoffe zu identifizieren, die im entzündeten Darm freigesetzt werden und über den abfließenden Blutstrom in die Leber gelangen. Sie lösen einerseits eine Entzündungsreaktion der Leber aus, beeinflussen andererseits die Bildung und Freisetzung von Gallensäuren in den Darm und sind damit Ursache besagter Fehlregulation. Dikopoulos’ Ergebnisse zeichnen ein plausibles Modell der Kommunikation und Wechselbeziehungen zwischen Darm und Leber bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen – eine wichtige Voraussetzung für den Entwurf neuer therapeutischer Konzepte.
Biochemische Ventile
Erklärungsmodelle und therapeutische Ansatzpunkte liefert auch die Dissertation von Raphael Röbe. Sein Thema: Funktion und Blockierung von Kv1.3-Kaliumkanälen. Kaliumkanäle sind Moleküle in der Membran von Zellen die das Ein- und Ausströmen von Kaliumionen (K+) ermöglichen. In Herz-, Muskel- und Nervenzellen regulieren sie als biochemische Ventile den Aktivitätszustand der Zellen und ermöglichen damit unsere Bewegungen und Sinneswahrnehmungen. Kv1.3-Kaliumkanäle aber sind funktionskritischer Bestandteil von Immunzellen. Hindert man Kaliumionen daran, durch den Kv1.3-Kanal zu fließen, indem man ihn beispielsweise mit einer Substanz verstopft oder blockiert, kann man eine mögliche Immunantwort unterdrücken. Eine solche Substanz könnte als daher Immunsuppressivum bei Autoimmunerkrankungen oder Transplantationen eingesetzt werden.
Röbe untersuchte die Blockadeeigenschaften einer Modellsubstanz namens Verapamil. Dabei stieß er auf Eigenschaften des Kv1.3-Kanals, die man nutzen kann, um ihn unpassierbar zu machen, ohne andere Kaliumkanäle in ihrer Funktion zu beeinträchtigen. Er bastelte sogar einen neuen, leicht modifizierten Test-Kanal, an dem sich die Suche nach einer spezifischen Substanz zur Blockade des Kv1.3-Typs um ein Vielfaches leichter durchführen läßt. Auf der Grundlage seiner Resultate wird es künftig möglich sein, die Suche nach Kv1.3-kanalblockierenden Substanzen als möglichen Immunsuppressiva nicht mehr nur theoretisch zu diskutieren, sondern auch praktisch durchzuführen.
Östrogen-Turbo
Dr. Magdalena Karolczak hat einen bis dahin unbekannten Wirkmechanismus des weiblichen Geschlechtshormons Östrogen entdeckt. Östrogen spielt eine zentrale Rolle bei der Regulation verschiedener Stoffwechselvorgänge in unserem Körper. Es kontrolliert nicht nur die (weiblichen) Fortpflanzungsorgane, sondern beeinflußt auch das Herz-Kreislauf-System und bremst den Knochenabbau (Osteoporose). Auch auf die Entwicklung und Leistungsfähigkeit unseres Gehirns hat das Hormon nachhaltigen Einfluß. So gilt Östrogen heute als schützender Faktor bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer und Parkinson. Normalerweise entfaltet es seine Wirkung über Rezeptoren im Zellkern, also dort, wo die Erbsubstanz (DNA) der Zelle verwaltet wird. Gelangt es in die Zelle und bindet sich an diese Rezeptoren, werden sie aktiviert, was auf das Ablesen der Erbinformation zurückwirkt: es entstehen neue Proteine. Dieser Vorgang benötigt meist mehrere Stunden bis Tage.
Karolczak kam nun einer Östrogen-Turboschaltung im Gehirn auf die Spur, die innerhalb weniger Sekunden abläuft. Verantwortlich sind bisher unbekannte Rezeptoren in der äußeren Hülle von Nervenzellen, die über komplizierte Mechanismen das innere Milieu einer Zelle regulieren. Die Entdeckung wirft ein neues Licht auf das vielseitige Hormon und könnte zum Angelpunkt neuer Modelle in der Östrogentherapie werden.
Gesund nach Zahlen
Heute sind nicht mehr alle angebotenen Gesundheitsleistungen finanzierbar. Um die begrenzten finanziellen Ressourcen möglichst optimal zu nutzen, ist eine Orientierung am Wert der Gesundheitsleistungen für den Patienten auf der Basis von Kosten-Nutzen-Analysen erforderlich. Was aber bestimmt den Wert von Gesundheitsleistungen und damit einhergehender Verbesserungen des Gesundheitszustandes? Diese Frage steht im Mittelpunkt der Dissertation »Der Wert besserer Gesundheit« von Thomas Klose.
Die praktische Bedeutung von Kosten-Nutzen-Analysen ist bislang gering. Das hängt insbesondere damit zusammen, daß sich Gesundheit nicht einfach in qualitativen oder quantitativen Maßeinheiten ausdrücken läßt. Kloses Dissertation liefert Lösungen sowohl zu Fragen des konzeptionellen Ansatzes als auch der Methodik -praxistaugliche Lösungen, wie sich in einer Befragung von Diabetikern in der Abteilung Allgemeinmedizin der Universität Ulm erwiesen hat. Mit ihren neuen Ansätzen und Ergebnissen hat die Arbeit gute Chancen, die Kosten-Nutzen-Analyse in gesundheitspolitischen Entscheidungsprozessen etablieren zu helfen.
Eingebautes Verantwortungsbewußtsein
Unternehmerisches Denken für Fortgeschrittene demonstriert die Studie von Dr. Manfred Reichert über »Dynamische Ablaufänderung in Workflow-Management-Systemen«. Es geht darin um die Optimierung von Geschäftsprozessen mit Hilfe des Computers – für Unternehmen fast aller Branchen heute ein vitales Element. Die bis dato existierenden Vorgangssteuerungs(engl. Workflow-Management-)Systeme sind in der Regel zu starr, um Arbeitsabläufe wirklich sinnvoll elektronisch zu unterstützen. Mit seiner Dissertation schuf Reichert nun die Grundlage für eine neue Generation von Systemen, die unternehmensweite und -übergreifende Arbeitsprozesse mit gewissermaßen eingebautem Verantwortungsbewußtsein ausführen, verwalten und überwachen können. Im Gegensatz zur herkömmlicher Workflow-Technologie ist es bei Reichert bedarfsweise möglich, flexibel vom vorgeplanten Standardablauf abzuweichen, etwa durch Einfügen oder Überspringen einzelner Arbeitsschritte. Erst so wird es möglich, anspruchsvollere Workflows, zum Beispiel im Krankenhaus oder in der Produktentwicklung, durch Computer zu unterstützen. Reicherts Ergebnisse setzen einen Meilenstein in der Weiterentwicklung der Workflow-Technologie und sind bereits bis zu einer Art Vorproduktstatus gediehen.
Sollbewegungsgarantie
Das prototypische Stadium haben die Konstruktionen von Harald Aschemann (»Optimale Trajektorienplanung sowie modellgestützte Steuerung und Regelung für einen Brückenkran«) zum Teil schon hinter sich. Viele der von ihm entwickelten Ansätze werden von namhaften Unternehmen erfolgreich angewendet, einige wurden patentiert. Gegenstand seiner Dissertation waren Entwicklung und Umsetzung regelungstechnischer Strategien, um – unter Einsatz zusätzlicher Soft- und Hardware – bei automatisch gesteuerten Krananlagen erstens Pendelschwingungen zu vermeiden und zweitens die hochgenaue Einhaltung vorgegebener Sollbewegungen für die Kranlast trotz vorhandener Störungen zu gewährleisten.
Aschemanns Entwürfen liegt ein detailliertes mathematisches Modell zugrunde, das unter anderem die veränderliche Seillänge, unterschiedliche Lastmassen und sämtliche Komponenten der Achsregelungen berücksichtigt. Anhand dieses Modells beschrieb der Preisträger zunächst in allgemeiner Form die optimalen Bewegungsabläufe (Vorgabe: »so schnell wie ohne Einbuße an Präzision möglich«) und übertrug seine Rechnungen anschließend auf die praktischen Einsatzbedingungen. Die Experimente erfolgten an einem mit hochdynamischen Antrieben sowie zusätzlichen Meßaufnehmern ausgestatteten Brückenkran, der durch eine neu entwickelte Lastorientierungseinheit mit drei Zusatzachsen ergänzt wurde, so daß neben der Position auch die Orientierung der Kranlast vollständig vorgegeben werden konnte.
Ein Anderes in Grün
In eine völlig andere Welt führt die Dissertation von Jörg Wiedenmann. Der englische Titel »The identification of new proteins homologous to GFP from Aequorea victoria as coloring compounds in the morphs of Anemonia sulcata and their biological function« beschreibt, worum es geht: genetische und funktionelle Analysen von Proteinen zweier Seeanemonen, die für deren Färbung zuständig sind.
Anemonia sulcata lebt im Mittelmeer in einer größeren Zahl unterschiedlicher Farbvarianten. Wiedenmann analysierte deren Genotypen und stieß in der Außenhülle der Tentakeln auf vier farbige Proteine, zwei mit grünlicher, eines mit orange Fluoreszenz, sowie einen roten Farbstoff, die gemeinsam mit weiteren Wirkstoffen zur Gesamtfärbung der Tiere beitragen. Er isolierte ihre Erbinformation, beschrieb ihr spektralen Eigenschaften, ihrer Größe, der Zahl ihrer Untereinheiten und ihren Aufbau und stellte dabei fest, daß sie einem bekannten Protein (dem GFP-Protein) der verwandten Seeanemone A. victoria eng verwandt sind. Ein ausgewähltes Protein, das grün fluoreszierende as FP499, vervielfältigte er anschließend in Drosophila-Zellen und Tabak-Zellvorstufen. Damit hat er möglicherweise einen neuen, für Biologie und Medizin gleichermaßen interessanten In-vivo-Marker für die Zellforschung aus der Taufe gehoben.
Mit beschränkter Wahrscheinlichkeit
Roman C.V. Schuberts Dissertation »Semiclassical Localization in Phase Space« schließlich sucht im Grenzbereich zwischen Physik und Mathematik nach Antworten auf zentrale Fragen der Theorie des Quantenchaos. Die unter diesem Begriff zusammengefaßten Phänomene werden in Atomen, Molekülen, Atomkernen und Festkörpern beobachtet, die sich im Grenzbereich zwischen klassischer und Quantenphysik »deterministisch chaotisch« verhalten, das heißt: berechenbar, aber nur in Form gewisser Wahrscheinlichkeiten, Gesetzen folgend, aber unvorhersehbar. Es geht also um den Zusammenhang zwischen Quantenphysik und Chaos. Virtuos handhabte Schubert die komplexen Methoden der mikrolokalen Analysis, um mehrere bisher ungesicherte Annahmen seiner Fachkollegen schlüssig zu beweisen – mit kompromißloser mathematischer Strenge, doch zugleich mit einer Originalität und Gedankentiefe, die höchsten wissenschaftlichen Maßstäben gerecht werden.
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