Spot an für Gehirnforscher: Nervenzellen mit Licht steuern
Gero Miesenböck hat als erster einen lichtgesteuerten An-Aus-Schalter in Gehirnzellen eingebaut. Mit der wegweisenden Methode können Forscher Nervenzellen gezielt an- und ausschalten und beobachten, wie sich dabei das Verhalten z. B. einer Fruchtfliege oder einer Maus ändert. Sie lernen so Stück für Stück, welche Schaltkreise im Gehirn welches Verhalten beeinflussen und was bei Krankheiten schief läuft. Für die als „Durchbruch des Jahrzehnts“ betitelte Methode erhält Gero Miesenböck, Professor an der Universität Oxford, am 6. November in München den mit 100.000 Euro dotierten Heinrich-Wieland-Preis der Boehringer Ingelheim Stiftung.
Die als Optogenetik bezeichnete Methode (Optik = die Lehre vom Licht und Genetik = die Lehre der Vererbung) hat die Erforschung des Gehirns mit Siebenmeilenstiefeln voranschreiten lassen. Sie hat uns gezeigt, welche Nervenzellen uns aufwecken. Sie half zu klären, wie Kokain und andere Drogen das Belohnungssystem im Gehirn umprogrammieren.
Sie hat verlorene Erinnerungen wieder hergestellt und so bewiesen, dass bei manchen Formen von Gedächtnisschwund nicht die Erinnerung verloren, sondern nur ihr Abruf gestört ist. Sie hat gezeigt, dass auch im weiblichen Gehirn die Grundlagen für Verhaltensweisen schlummern, die oft als „typisch männlich“ bezeichnet werden. Und sie hat den unsicheren Gang von Mäusen mit Parkinson wieder in sichere Schritte verwandelt. Bereits in diesem Jahr soll der erste Versuch erfolgen, blinden Menschen mit Hilfe der Optogenetik ihre Sehkraft zurückzugeben.
Um das Leben zu meistern, schalten sich im Gehirn von Tieren – und Menschen – unterschiedliche Typen von Nervenzellen zusammen, um gemeinsam Teilaufgaben zu bewältigen. Diese Schaltkreise vergleichen zum Beispiel eingehende Signale, messen Zeit oder speichern Erinnerungen. Arbeiten mehrere solcher Schaltkreise zusammen, können sie größere Aufgaben lösen, z.B. entscheiden, ob wir den roten Pullover kaufen oder für den Urlaub sparen.
Die Funktion dieser Schaltkreise kann man dank Gero Miesenböcks Grundkonzept der Optogenetik präzise im intakten Gehirn untersuchen. Mit ihrer Hilfe können die beteiligten Zelltypen gezielt nacheinander an- und wieder abgeschaltet werden – und das fast gedankenschnell.
Er weiß es noch genau. Am späten Nachmittag des 12. Juni 1999 hatte er die entscheidende Idee, die zur Optogenetik führte. Er veränderte Nervenzellen genetisch so, dass sie Proteine produzierten, deren Aktivität über Licht steuerbar ist. Dadurch reagierten auch die Nervenzellen auf Licht. Allerdings musste er dafür sorgen, dass nur die Zellen die Schalterproteine produzierten, die er untersuchen wollte.
Dazu verknüpfte er die Gene für die Schalterproteine mit Genabschnitten, die nur in den gewünschten Zelltypen aktiv waren. So reagierten die Wunschzellen auf das Lichtsignal, alle anderen Zellen aber nicht. „Das Konzept, lichtaktivierbare Proteine zelltypspezifisch einzubauen und damit bestimmte Nervenzellen zuverlässig, einfach, präzise und schnell an- und abschalten zu können, ist Miesenböcks Verdienst. Dafür verleihen wir ihm den Heinrich-Wieland-Preis 2015“, sagt Professor Dr. Wolfgang Baumeister, Vorsitzender des wissenschaftlichen Auswahlgremiums für den Preis.
„Ich wusste seit unseren ersten Erfolgen, dass diese Methode uns ungeahnte Einblicke ins Gehirn geben kann. Aber wie schnell andere Forscher sie übernommen und weiterentwickelt haben, beeindruckt mich“, so Gero Miesenböck. „Inzwischen arbeitet fast jede zweite Forschergruppe in der Neurobiologie damit. Sie erforschen, wie das Gehirn Entscheidungen trifft, warum wir depressiv werden oder was unseren Appetit bestimmt.“
Zuvor konnten Forscher entweder nur eine Zelle oder aber gleich alle Zellen und Zelltypen in einem Bereich des Gehirns durch eingepflanzte Elektroden steuern. Die Optogenetik erlaubt erstmals, einen oder mehrere Zelltypen gezielt zu untersuchen, selbst wenn die Zellen über das ganze Gehirn verteilt sind. Ein weiterer Vorteil ist, dass sich Lichtsignale so schnell an- und ausknipsen lassen, wie Nervenzellen arbeiten. Im Gegensatz zu anderen Methoden, kann man mit dieser Methode direkt die Schaltkreise im Gehirn und damit das Verhalten von Tieren beeinflussen, wie Miesenböck 2005 erstmals zeigte. Seit ihrem ersten Einsatz in Zellkultur im Jahr 2002 haben Miesenböck und andere Forscher die Optogenetik weiterentwickelt und verbessert. Mittlerweile verwenden Wissenschaftler sogar Schalterproteine, die jeweils auf andere Lichtfarben reagieren, so dass sie gleichzeitig mehrere Zelltypen – und damit ihr Zusammenspiel – untersuchen können. (Mehr zur Methode siehe Infokasten Optogenetik)
Die gemeinnützige Boehringer Ingelheim Stiftung lädt anlässlich der Preisverleihung zu einem wissenschaftlichen Symposium über Optogenetik ein. Neben einem Vortrag von Professor Gero Miesenböck halten auch Professor Christian Lüscher, Professor Botond Roska und Professor Arthur Konnerth Vorträge zu Optogenetik und Sucht, Alzheimer und der Heilung von Sehstörungen. Alle drei sind international ausgewiesene Wissenschaftler auf ihrem Gebiet. Die Laudatio hält der Nobelpreisträger Professor Bert Sakmann. Das Programm des englischsprachigen Symposiums am 6. November in Schloss Nymphenburg in München finden Sie anbei.
Pressevertreter sind herzlich eingeladen, bitte wenden Sie sich an Kirsten Achenbach unter 06131-2750816 oder hwp@bistiftung.de. Gerne ermöglichen wir Ihnen auch ein Interview mit dem Preisträger oder den Vortragenden.
Gero Miesenböck – der Preisträger
Gero Miesenböck studierte Medizin an der Universität Innsbruck in Österreich. Im Anschluss arbeitete er in den USA zunächst als Postdoktorand am renommierten Memorial Sloan-Kettering Krebszentrum in New York und dann als Fakultätsmitglied an der Cornell und der Yale Universität. Im Jahr 2007 wurde er Waynflete Professor für Physiologie an der Universität Oxford, England. Seit 2011 leitet er das im selben Jahr gegründete Zentrum für Neuronale Schaltkreise und Verhalten der Universität Oxford.
Optogenetik – die Methode
Um Nervenzellen gezielt mit Hilfe von Licht an- oder ausschalten zu können, übertrug Gero Miesenböck in seinen ersten Experimenten noch drei verschiedene Gene aus der Fruchtfliege in die Gehirnzellen von Mäusen. So revolutionär das Konzept war, so war es doch zunächst aufwendig und die Zellen reagierten erst nach mehreren Sekunden auf das Signal. Doch innerhalb weniger Jahre fanden Miesenböck und andere Forscher Möglichkeiten, Nervenzellen mit nur einem zusätzlichen Gen im Millisekunden-Takt an- und auszuschalten. Heute nutzen Forscher sogenannte Kanalrhodopsine aus Einzellern, Pilzen und Algen als Schalterproteine. Wie der Name andeutet, bilden sie Kanäle in der Zellhülle, die auf Licht reagieren. Trotz der primitiven Herkunft bauen erstaunlicherweise selbst Säugetierzellen diese Proteine problemlos in ihre Membranhülle ein. Werden die Kanäle durch Licht aktiviert, strömen, je nach Art des Kanals, Ionen in die Zelle hinein oder aus ihr heraus. Dieser Ionenstrom lässt dann die Nervenzelle feuern oder verstummen. So können die Forscher die veränderten Nervenzellen direkt über einen Lichtimpuls von außen steuern.
Heinrich-Wieland-Preis
Der Heinrich-Wieland-Preis honoriert internationale Spitzenforschung zu biologisch aktiven Substanzen und Systemen in den Bereichen Chemie, Biochemie und Physiologie sowie ihrer klinischen Bedeutung. Der Preis ist nach dem deutschen Nobelpreisträger Heinrich Otto Wieland (1877–1957) benannt und wird seit 1964 jährlich vergeben. Ein wissenschaftliches Kuratorium wählt die Preisträger aus, zu denen auch vier spätere Nobelpreisträger gehören ( www.heinrich-wieland-prize.de ).
Die Boehringer Ingelheim Stiftung (BIS) dotiert den Preis mit 100.000 Euro. Sie fördert u. a. das Institut für Molekulare Biologie (IMB) mit 100 Millionen Euro und die Lebenswissenschaften an der Universität Mainz mit weiteren 50 Millionen Euro. Die BIS ist eine eigenständige und gemeinnützige Stiftung zur Förderung der medizinischen, biologischen, chemischen und pharmazeutischen Wissenschaft (www.bistiftung.de ).
Hochauflösendes Bildmaterial ist vorhanden.
Ansprechpartner:
Kirsten Achenbach
Boehringer Ingelheim Stiftung
Schusterstr. 46-48
55116 Mainz
Tel: 06131-27 50 816
Mail: kirsten.achenbach@bifonds.de
http://www.heinrich-wieland-prize.de – englische Seite zum Preis
http://www.bistiftung.de – Webseite der gemeinnützigen Boehringer Ingelheim Stiftung
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