Telemedizin gewinnt in Deutschland an Fahrt
Ärzte kontrollieren Schrittmacher per Internet. Bei der Notfalltherapie von Schlaganfallpatienten hilft der Videodoktor. Patienten mit Grünem Star oder Herzinsuffizienz führen Selbstmessungen durch und stellen die Ergebnisse in eine Onlineakte ein. Und der Pathologe bittet seinen Kollegen bei Brustbiopsien um eine virtuelle Zweitmeinung. Pilotprojekte mit unklarer Zukunft? Mitnichten! Die Telemedizin hält zunehmend Einzug in die Regelversorgung im deutschen Gesundheitswesen und ist eines der Schwerpunktthemen der kommenden TeleHealth.
Unter dem Schlagwort Telemedizin verstehen Ärzte und Gesundheits-IT-Experten medizinische Leistungen, die mit Hilfe von moderner Informations- und Kommunikationstechnik (ITK) auf Distanz erbracht werden. Solche 'Fernbetreuung' war lange Zeit nur unter experimentellen Bedingungen möglich. Rechtliche Fragen, vor allem aber Finanzierungsfragen waren ungeklärt. Das ändert sich gerade rapide.
Für die Fernabfrage von Medizingeräten erhalten Ärzte jetzt Geld
Bestes Beispiel dafür ist der neue Abrechungskatalog für die ambulante ärztliche Versorgung in Deutschland, der im Jahr 2008 eingeführt wurde. Er enthält zum ersten Mal Abrechungsziffern, die es niedergelassenen Ärzten ermöglichen, Telemedizin zumindest in einigen Situationen nicht nur einzusetzen, sondern auch abzurechnen. So bieten mittlerweile praktisch alle Hersteller von Herzschrittmachern und implantierbaren Defibrillatoren Geräte an, die sich für Fernabfragen übers Internet eignen. Zu definierten Zeitpunkten funken diese Geräte Funktionsdaten an eine sichere Internetplattform. Die Daten geben Auskunft darüber, ob der Schrittmacher oder Defibrillator noch richtig funktioniert. Stimmt etwas nicht, wird der betreuende Herzspezialist per E-Mail, Telefon oder SMS informiert und kann den Patienten dann – und nur dann – in die Praxis bitten. Für Arzt und Patient bieten solche Systeme riesige Vorteile: Der Patient erspart sich Kontrollbesuche beim Herzrhythmusspezialisten, die oft mit langen Anreisewegen verbunden sind. Der Arzt wiederum spart Zeit, weil die Fernabfrage eine Sache von Sekunden ist. Für Patienten, die den Arzt wirklich benötigen, bleibt so mehr Raum im Praxisalltag. Das Problem bisher: Anders als für den Patientenbesuch gab es für die Fernabfrage kein Geld. Jetzt wurde eine Abrechungsziffer geschaffen, die die Lücke beseitigt. Die Fernabfrage von Implantaten dürfte sich damit rasch als ein neuer Standard etablieren.
Live-Schaltung zur Tele-Gesundheitsschwester
Ebenfalls voran bringen könnte die Telemedizin in Deutschland die neue Möglichkeit zur Abrechnung von delegierten ärztlichen Leistungen, die derzeit geschaffen wird. Es handelt sich um eine Reaktion auf das Telemedizin-Projekt 'Schwester Agnes', das vor mehreren Jahren vom Institut für Community Medicine der Universität Greifswald gestartet worden war. 'Schwester Agnes' ist eine Gemeindeschwester, die mit einem Tablet-PC ausgerüstet ist und damit im Auftrag eines Arztes Hausbesuche bei bettlägerigen Patienten in Regionen mit niedriger Arztdichte macht. Den Anfang machte die Insel Rügen. Mittlerweile gibt es die 'Tele-Gesundheitsschwester', so der offizielle Name, auch in anderen Regionen Deutschlands. Die Dokumentation durch die Schwester geschieht am mobilen Rechner, und die Daten werden an den Praxis-PC des Arztes übermittelt. Der hat so jederzeit alle Informationen, die er benötigt, und bei Bedarf kann er sich sogar per Videoschaltung live in den Hausbesuch 'einklinken'.
Telebetreuung beim Glaukom spart Anfahrtswege
Mecklenburg-Vorpommern mit seiner Universitätsklinik Greifswald ist auch Schauplatz eines der neuesten Telemedizinprojekte in Deutschland, der telemedizinischen Betreuung von Patienten mit Grünem Star (Glaukom). Bei Glaukompatienten muss der krankhaft erhöhte Augeninnendruck medikamentös gesenkt werden. Geschieht das nicht, droht eine Erblindung. Gerade in der Anfangsphase sind regelmäßige Druckkontrollen nötig, bis die medikamentöse Therapie optimal eingestellt ist. In Zusammenarbeit mit der Universitätsaugenklinik wurde jetzt ein Köfferchen entwickelt, das der Patient in der Einstellungsphase der Medikation mit nach Hause nimmt. Der Patientenkoffer enthält das Equipment für eine 'Teletonometrie', bei der der Patient den Augeninnendruck zu festgelegten Zeitpunkten selbst misst und die Werte dann per Modem in eine Internetakte einstellt. Auf diese Daten können die Experten an der Uniklinik, aber auch der betreuende Haus- oder Augenarzt zugreifen. Bei Auffälligkeiten wird die Medikation umgestellt. Die Techniker Krankenkasse bietet jetzt als erste Krankenkasse ihren Versicherten in Mecklenburg-Vorpommern diese Telemedizin-Option an – nicht als Pilotprojekt, sondern im Rahmen der regulären Versorgung.
Kardiologie: Speerspitze der Telemedizin in Deutschland
Auch bei der telemetrischen Überwachung von Patienten mit chronischer Herzschwäche wird das Stadium der Pilotprojekte im deutschen Gesundheitswesen derzeit in großen Schritten verlassen. Jüngstes Beispiel ist das Ende Juni 2008 gestartete Telemonitoring-Projekt der AOK Plus in Sachsen, bei dem sich schwer herzinsuffiziente Patienten ein Jahr lang mit Hilfe einer digitalen Waage und eines digitalen Blutdruckmessgeräts überwachen lassen können. Die Werte werden verschlüsselt an ein telemedizinisches Zentrum weitergeleitet, das die Patienten telefonisch betreut und bei Bedarf den zuständigen Arzt oder die Klinik einschaltet. Ziel ist es, bedrohliche Wassereinlagerungen frühzeitig zu erkennen, um den Patienten durch rechtzeitige Umstellung der Therapie langwierige Klinikaufenthalte zu ersparen. Das erhöht die Lebensqualität des Patienten und spart Geld für die Krankenkasse.
Ähnlich gelagerte Projekte gibt es mittlerweile über zwanzig in Deutschland. Ein Unternehmen aus Nordrhein-Westfalen hat zahlreiche Krankenkassen unter Vertrag, die für Herzpatienten ähnliche Überwachungsprogramme anbieten. An der Charité Berlin und dem Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart engagieren sich die Barmer Ersatzkasse und die Bosch BKK in dem Versorgungsprojekt 'Partnership for the Heart'. Dieses Projekt wird deswegen mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt, weil es als klinische Studie konzipiert ist, die im Jahr 2009 die Daten für eine ambulante Abrechnungsziffer 'Telemonitoring' liefern soll. Ähnlich wie bei den Schrittmachern und Defibrillatoren wäre dann auch die telemedizinische Betreuung bei Herzinsuffizienz endgültig in der Regelversorgung des deutschen Gesundheitswesens angekommen.
Messgerät an Akte: Blutzucker steigt!
Zwar gilt das Herz als das Telemedizin-Organ schlechthin. Aber alleine auf weiter Flur ist es nicht mehr. Dank neuer Messgeräte wird die drahtlose Datenübertragung des Blutzuckers in Internetakten ohne erneute Eingabe der Messwerte langsam salonfähig. Bereits bei der TeleHealth 2008 hat das Unternehmen BodyTel ein entsprechendes System vorgestellt. Andere Anbieter sind auch auf diesem Sektor aktiv. Der Vorteil ist klar: Wo immer ein Patient sich befindet, er kann seinem Arzt die aktuellen Blutzuckerwerte zugänglich machen und so Probleme bei der Blutzuckereinstellung rasch und unkompliziert beheben.
Für Krankenkassen wird die Fernüberwachung von Diabetikern wie bei Herzpatienten vor allem im Rahmen von integrierten Versorgungskonzepten interessant. Im Frühjahr wurden erste Ergebnisse der Diabetiva-Studie vorgestellt, bei der die telemedizinische Betreuung von Diabetikern medizinisch und ökonomisch evaluiert wird. Ergebnis: Die Zahl der Klinikeinweisungen lag nach einem halben Jahr um ein Fünftel niedriger als in der Kontrollgruppe, und die durchschnittliche Verweildauer in der Klinik sank gar um ein Drittel.
Schlaganfall: Der Experte kommt per Liveschaltung dazu
Harte Daten über den medizinischen Nutzen der Telemedizin gibt es auch bei Schlaganfallpatienten. Hier hat sich vor allem das süddeutsche Schlaganfallnetz TEMPiS hervorgetan, das die Versorgung von Schlaganfallpatienten in kleinen Kliniken ohne eigene neurologische Abteilung verbessern will. Einige Schlaganfallpatienten profitieren stark von einer blutverdünnenden Behandlung, der so genannten Lysetherapie. Diese Behandlung kann aber Komplikationen haben, sodass sich Nicht-Neurologen im Notfall oft nicht zu einer Entscheidung 'pro Lyse' durchringen können. Im TEMPiS-Netz wurden deswegen Videoverbindungen zwischen den kleinen Kliniken einerseits und zwei Schlaganfallzentren in München und Regensburg andererseits aufgebaut. Kommt ein Patient mit Schlaganfall in die Notaufnahme einer der kleinen Kliniken, wird eine Live-Schaltung zum Experten in München oder Regensburg hergestellt, der sich den Patienten und die Computertomographien des Kopfes dann unmittelbar ansehen und die Untersuchung begleiten kann. Die Entscheidung über die Therapie wird gemeinsam getroffen. Das wirkt: Ein Vierteljahr nach Einführung der Telekonsultationen konnte die Zahl der Patienten mit schlechtem Therapieergebnis – beim Schlaganfall hei
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