Mikroelektrodensonden: Hoffnung für Querschnittsgelähmte
Eine neue Behandlungsmethode könnte dies künftig ändern: Die Stimulation des Rückenmarks mit elektronischen Impulsen soll Betroffenen helfen, wieder laufen zu lernen. Vom 3. bis 5. Juni zeigen Fraunhofer-Forscher auf der Messe Sensor + Test in Nürnberg implantierbare Mikroelektrodensonden aus der vorklinischen Entwicklung (Halle 12, Stand 12-537).
Thomas T. war gerade einmal 25 Jahre alt, als ein schwerer Motorradunfall sein Leben von einer Sekunde auf die andere veränderte. Die Diagnose der Ärzte: Querschnittslähmung. Das Rückenmark war im Lendenwirbelbereich beschädigt. Seither sitzt der junge Mann im Rollstuhl.
Die Diagnose Querschnittslähmung war ein Schock, erst in monatelanger Rehabilitationszeit hat Thomas T. gelernt, damit zu leben. Denn Aussicht auf Heilung besteht für Betroffene nicht. Bisher gibt es keine wirksame Behandlungsmethode, um das motorische Leistungsvermögen von schwer gelähmten Menschen zu verbessern.
Ein Konsortium aus europäischen Forschungseinrichtungen und Unternehmen will Betroffenen künftig im wahrsten Sinne des Wortes wieder Beine machen. Im EU-Projekt NEUWalk, das mit etwa neun Millionen Euro gefördert wird, untersuchen Forscher eine neue Methode, die Bewegungsfunktionen nach schweren Verletzungen des Rückenmarks wiederherstellen soll.
Das Verfahren beruht auf der elektrischen Stimulation der Nervenbahnen im Rückenmark. »Die Anregung muss unterhalb der verletzten Stelle erfolgen, da die Nervenzellen dort keine hinreichenden Informationen mehr aus dem Gehirn erhalten«, erläutert Dr. Peter Detemple, Abteilungsleiter am Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie, Institutsteil Mikrotechnik Mainz IMM und Projektkoordinator von NEUWalk.
Hierfür entwickeln Detemple und sein Team flexible, hauchdünne Mikroelektrodensonden, die im Spinalkanal auf dem Rückenmark implantiert werden. Diese mikroprozessorgesteuerten, vielkanaligen Elektroden-Arrays reizen die Nervenbahnen mit elektronischen Impulsen, die von einem ebenfalls implantierten Neurostimulator ausgelöst werden.
»Die unterschiedlichen Elektroden des Arrays liegen in der Umgebung der Nervenwurzeln, die für die Bewegungsfunktionen zuständig sind. Sie müssen in bestimmten zeitlichen Abfolgen mit Pulsmustern angesteuert werden, um Bewegungsabläufe zu modellieren und die Motorik zu unterstützen«, sagt Detemple.
In Tests mit Ratten, deren Rückenmark nicht vollständig durchtrennt war, ist dies dem Forscherkonsortium bereits gelungen. Durch Stimulation des Rückenmarks in Kombination mit einem Medikamentencocktail und einem Rehabilitationstraining konnten die Tiere nicht nur Gehbewegungen ausführen, sondern sogar rennen, Stufen erklimmen und Hindernisse überwinden.
»Wir konnten Bewegungsabläufe auslösen, indem wir bestimmte Pulssequenzen über verschiedene Elektroden auf das Rückenmark einspeisten«, so Detemple. Der Forscher und seine Kollegen halten es für möglich, auch Menschen wieder auf die Beine zu helfen. »Wir hoffen, die Ergebnisse unserer Tierexperimente auf Menschen übertragen zu können. Natürlich werden Rückenmarksgeschädigte nicht ohne Einschränkungen Sport treiben oder lange Wege zurücklegen können. Es geht zunächst darum, dass sie eine gewisse Selbstständigkeit erlangen und sich beispielsweise in ihrer Wohnung bewegen und versorgen oder kurze Strecken ohne Hilfsmittel zurücklegen können«, sagt Detemple.
Noch diesen Sommer wollen die NEUWalk-Forscher ihr System an zwei Patienten testen, die nicht komplett querschnittgelähmt sind. Es findet noch eine eingeschränkte Reizübertragung zwischen Gehirn und Beinen statt. Hierfür entwickeln die Wissenschaftler derzeit maßgeschneiderte Implantate. »Doch selbst wenn die Versuche mit den beiden Patienten erfolgreich verlaufen sollten, wird es noch Jahre dauern, bis das System marktreif ist. Erst muss die Wirksamkeit der Methodik in klinischen Studien an einer größeren Anzahl von Patienten bestätigt werden«, sagt Detemple.
Elektrische Rückenmarkstimulation soll Parkinson-Symptome lindern
Auch Parkinson-Patienten könnten von den Neuroprothesen profitieren. Die bekanntesten Symptome der Erkrankung sind der Tremor, ein starkes Muskelzittern und ein gebeugter kleinschrittiger Gang, der die Beweglichkeit der Patienten stark einschränkt. Das Nervenleiden wird bisher meist mit Dopaminagonisten behandelt – mit Wirkstoffen, die Dopamin chemisch ähneln, die jedoch bei längerer Einnahme oft starke Nebenwirkungen haben.
Im fortgeschrittenen Stadium wird heute oftmals die tiefe Hirnstimulation eingesetzt. Hierbei implantieren Mediziner in einer aufwändigen Operation Elektroden in bestimmte Hirnareale, um dort die Aktivität der Nervenzellen zu stimulieren oder zu hemmen. Im Projekt NEUWalk setzen die Forscher auf die elektrische Rückenmarksstimulation, einen weniger gefährlichen Eingriff, der die Parkinsonsche Symptomatik aber ebenso lindern soll. »Erste Experimente am Tiermodell zeigen vielversprechende Ergebnisse«, sagt Detemple.
Auf der Messe Sensor + Test 2014 in Nürnberg zeigen die Mainzer Forscher Prototypen ihrer Neuroprothesen. Dazu gehören implantierbare Mikroelektrodensonden ebenso wie starre vielkanalige Sonden, die sich zum Aufzeichnen von elektrophysiologischen Signalen und zur Stimulation von neuronalen Strukturen eignen.
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