Supraleiter, Schrimps und Stauprognosen:
Jahrestagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Hamburg
Vom 26. bis 30. März erwartet Hamburg über 3.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland anlässlich der Haupttagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG). Die „65. Physikertagung“ findet an der Universität der Hansestadt und im Congress Centrum Hamburg (CCH) statt. Unter den namhaften Plenarrednern ist der Chemie-Nobelpreisträger Walter Kohn. Besonderes Interesse gilt dieses Jahr der Festkörperforschung: so ist dem kürzlich entdeckten Supraleiter Magnesium-Diborid eine Sondersitzung gewidmet. Auf der Tagesordnung stehen ferner Klimaschutz, Automobiltechnik, Rüstungskontrolle und auch die Situation der Frauen in der Physik. Selbst Studien über Verkehrsstaus und zur „Physik von Seekrabben“ sind im Konferenzband vertreten. Lehrerfortbildungen, öffentliche Abendvorträge, Ausstellungen und eine Podiumsdiskussion zur Verknüpfung von Physik und Lebenswissenschaften runden das Programm ab.
Die Reihe der Physikertagungen begann 1921 in Jena; Hamburg ist zum sechsten Mal Gastgeber. Turnusgemäß fällt die Physikertagung 2001 mit dem Frühjahrstreffen des Arbeitskreises Festkörperphysik der DPG zusammen. Außerdem tagen in der Hansestadt die Arbeitskreise „Energie“, „Physik und Abrüstung“, „Chancengleichheit“, der „Ausschuss Industrie und Wirtschaft“ sowie der Fachverband „Geschichte der Physik“. An der Konferenz sind auch die physikalischen Gesellschaften der Niederlande, Österreichs und Tschechiens beteiligt.
Das Element Silizium und seine Verwandten aus der Halbleiterfamilie sind die Rohstoffe der Mikroelektronik. Obwohl sich viele Beiträge zur Hamburger Tagung mit „klassischen“ Halbleitern befassen, zählt die Physik organischer Festkörper zu den besonderen Schwerpunkten. Diese Stoffe werden zwar für gewöhnlich zu den Isolatoren gerechnet – doch einige synthetische Verbindungen leiten elektrischen Strom, einzelne sind sogar supraleitend. Manche Polymere leuchten unter Stromfluss und lassen sich zu biegsamen Anzeigetafeln verarbeiten. Neueste Erkenntnissen auf diesem Gebiet behandelt ein Plenarvortrag zum Auftakt der Konferenz, sowie ein Symposium am 27. März.
Ein weiteres Kernthema sind Supraleiter – Materialien, die bei eisiger Kälte elektrischen Strom verlustfrei übertragen. Supraleitende Spulen kommen etwa in Magnetresonanz-Tomographen zum Einsatz. Am Vormittag des 28. März findet ein Plenarvortrag über keramische Hochtemperatur-Supraleiter statt, für den Abend wurde eine Sondersitzung über Magnesium-Diborid angesetzt. Die besonderen Eigenschaften dieser Metallverbindung waren der Wissenschaft bis vor wenigen Wochen entgangen. Der Clou: Dieses Metall verliert seinen elektrischen Widerstand „bereits“ bei minus 235 Grad Celsius. Für nicht-keramische Supraleiter eigentlich eine „Höllenhitze“. Angesichts der Betriebstemperaturen keramischer Hochtemperatur-Supraleiter – die Rekordmarke hier liegt um minus 140 Grad Celsius – mag der Befund lächerlich erscheinen. Allerdings könnte dieses Metall die Entwicklung neuartiger Materialien anstoßen: Supraleiter, die – wie keramische Supraleiter – mit einfacher Kühlung auskommen, die sich aber anders als spröde Keramiken leicht verarbeiten lassen.
Weitere Akzente auf dem Gebiet der Festkörperphysik haben die Organisatoren durch eine Reihe von Symposien gesetzt, in denen es beispielsweise um die Bearbeitung von Werkstoffen mit Laserstrahlen geht. Andere Programmpunkte im Laufe der Woche sind Datenspeicherung und Magnetoelektronik, sowie Quanteneffekte an Festkörperoberflächen.
Am 29. und 30. März erörtert der Arbeitskreis Abrüstung – gemeinsam mit dem „Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit“ (FONAS) – Probleme der Rüstungskontrolle und Plutoniumentsorgung. Ein zentrales Thema ist die von den USA geplante Raketenabwehr. An den Fachsitzungen nehmen Experten aus Russland und den USA teil.
Entwicklungen der Fahrzeugtechnik – vom intelligenten Bremssystem bis zur Brennstoffzelle – stehen im Mittelpunkt des Industrietages „Physik und Automobil“ am 29. März. Veranstalter ist der Ausschuss Industrie und Wirtschaft. In einer abschließenden Podiumsrunde diskutieren Branchenvertreter über die Zukunft des Automobils. Dem Thema Mobilität widmet sich auch das Symposium „Neue Transportphänomene – vom Maxwell-Dämon zum Verkehrsstau“ (27. März). Hier geht es um Vielteilchensysteme in Gasen, Flüssigkeiten und auf der Straße.
Die Fachsitzung „Ökonophysik“ (27. März) behandelt Phänomene, die sich gleichfalls mit Methoden der statistischen Physik untersuchen lassen. Im Blickpunkt hier: die Modellierung von Wirtschaftsprozessen.
Mit einem Grußwort des ersten Bürgermeisters der Stadt Hamburg, Ortwin Runde, beginnt am Mittwochvormittag (28. März) im CCH die Festsitzung der diesjährigen Physikertagung. Den Festvortrag „Die Verantwortung des Naturwissenschaftlers“ hält Hans-Peter Dürr. Der Münchner Wissenschaftler wurde 1987 mit dem „alternativen Nobelpreis“ ausgezeichnet. Innerhalb des feierlichen Rahmens ehrt die DPG acht Forscher für ihre herausragende wissenschaftliche Arbeit – darunter Kollegen aus Polen, der Schweiz und Großbritannien (s. PM 3/2001). Außerdem werden zehn Gymnasiasten für ihre Leistungen bei internationalen Physik-Wettbewerben ausgezeichnet. Die Deutsche Vakuum-Gesellschaft verleiht überdies ihren Gaede-Preis.
Während die Nanotechnologie noch daran tüftelt, Motoren von molekularen Dimensionen herzustellen, ist die Natur schon längst soweit: In biologischen Zellen wandeln filigrane Proteingebilde chemische Energie in mechanische Arbeit um. Sie sorgen für Stofftransport, Fortbewegung und spielen auch bei der Zellteilung eine Rolle. Das Funktionsprinzip solcher Mikromaschinen nimmt ein Plenarvortrag am 29. März unter die Lupe. Mit „schnalzenden“ Schrimps, deren Scheren-Geklapper sogar die Kommunikation von U-Booten stören kann, befasst sich – ebenfalls am 29. März – ein Beitrag aus den Niederlanden. Weitere Fragestellungen der Biophysik greift ein Symposium am 27. März auf. Dabei geht es unter anderem um die elastischen Eigenschaften von Zellen und die Verträglichkeit von Metallimplantaten.
Zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer, teils in Begleitung ihrer Schulklassen, werden zum „Lehrertag“ am letzten Tag der Konferenz erwartet. Die Teilnahme an dieser Fortbildung ist kostenlos. Angeboten werden allgemeinverständliche Vorträge zur Fachdidaktik (etwa Begabtenförderung) und zu aktuellen Forschungsgebieten der Physik.
2001 wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung zum „Jahr der Lebenswissenschaften“ ausgerufen. Die Lebenswissenschaften sind ein weit verzweigtes Forschungsgebiet, an dem zahlreiche Fachdisziplinen mitwirken. Über die Verknüpfung zur Physik debattieren Wissenschaftler und Journalisten am 29. März. Das öffentliche Forum im CCH beginnt um 20:00 Uhr. Zu den Attraktionen des öffentlichen Programms gehören darüber hinaus die Ausstellung „Von der Antike zur Neuzeit – der verleugnete Anteil der Frauen in der Physik“, sowie zwei Abendvorträge. Am Montag, 26. März, berichtet Larry Schaaf von der Geburtsstunde der Fotographie. Dieser Vortrag in englischer Sprache beginnt um 18:00 Uhr. Zwei Tage später nimmt Werner Martienssen die Gesetze des Zufalls anhand von Live-Experimenten ins Visier. Seine Demonstration startet am 28. März, um 20:00 Uhr. Werner Martienssen wird auf der Physikertagung mit dem Robert-Wichard-Pohl-Preis ausgezeichnet, den er unter anderem für sein Engagement in Sachen Physik-Vermittlung erhält. Und ein letzter Programmpunkt: In der Woche vor Tagungsbeginn lädt eine Physik-Ausstellung im Hamburger Hanse-Viertel „zum Mitmachen“ ein. Für Neugierige stehen dort vom 19. bis 23. März täglich Ansprechpartner bereit. Zu allen öffentlichen Veranstaltungen ist der Eintritt frei.
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