Hoch konzentriert ins All

Weltraumbahnhof Kourou, Französisch-Guyana. Eine Sojus-Rakete kurz vor dem Start. Hochkonzentrierte Frauen und Männer im Kontrollzentrum in Kourou. „Hochkonzentriert“ ist auch das Wasserstoffperoxid (H2O2) an Bord der Rakete: 82,5 Prozent. Es treibt die Turbopumpen an, die die eigentlichen Treibstoffe, das Kerosin und den Flüssigsauerstoff, in die Brennkammern drücken. Zehn Tonnen H2O2 werden innerhalb weniger Minuten beim Aufstieg verbraucht.

Noch ist das eine Vision – aber von der Wirklichkeit gar nicht mehr so weit entfernt. Denn nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Auflösung der Sowjetunion suchte die russische Weltraumbehörde Roskosmos unter anderem einen engeren Kontakt zur europäischen Raumfahrtbehörde ESA. Seit Beginn haben die Sojus-Spezialisten nahezu 1.800 Flüge so in den Weltraum gestartet. Künftig sollten Weltraumstarts mit der Sojus-Rakete nicht nur von den Startbasen Baikonur in Kasachstan und Plesetsk in Sibirien möglich werden, sondern auch von Kourou in Französisch-Guyana. Dessen Lage in der Nähe des Äquators (5 Grad nördlich) verleiht den Raketen zusätzlichen Schwung, da die Erdrotationsgeschwindigkeit in Äquatornähe am höchsten ist.

Kontakt nach Russland
Nachdem sich ESA und Roskosmos auf eine Zusammenarbeit bei Sojus-Starts in Guyana geeinigt hatten, suchte das russische Unternehmen TsENKI, Dienstleister für Starts von Weltraumfahrzeugen und für deren Versorgung mit Raketentreibstoffkomponenten, auf dem weltweiten Markt nach leistungsfähigen Partnern. „Den ersten Kontakt hatten wir bereits im Juni 2005“, berichtet Dr. Norbert Nimmerfroh, Leiter Anwendungstechnik Active Oxygens im Degussa-Geschäftsbereich Building Blocks. „Wir schickten TsENKI Muster unseres Wasserstoffperoxids PROPULSETM, worauf im April 2006 eine russische Delegation unsere Standorte Hanau-Wolfgang, Sitz von Forschung und Anwendungstechnik, und Rheinfelden, wo diese H2O2-Qualität produziert wird, besichtigte. Im Gegenzug inspizierten wir im August den Raketenteststandort und dort insbesondere die H2O2-Tankanlage in Samara, einer Stadt im Süden des europäischen Teils Russlands.“ Klaus-Dieter Lux, verantwortlicher Sales Director für Zentral- und Osteuropa, ergänzt: „Einen Monat später, im September, wurden über Sankt Petersburg zehn Tonnen PROPULSETM 825 in einem Spezialcontainer nach Samara geliefert und das Produkt wurde vor Ort für die Übernahme qualifiziert.“ Im Nachgang wurden umfangreiche Untersuchungen des H2O2 und Labortests an Katalysatoren vorgenommen. Die intensive Zusammenarbeit hat sich gelohnt: Der Test an einer Rakete im November verlief mit dem Degussa-Material erfolgreich.

Sicherer Transport

Know-how ist allerdings nicht nur für die Produktion des hochkonzentrierten Stoffes notwendig. Denn dessen Neigung, sich bei Wärme oder in Gegenwart von Schwermetallen zu zersetzen, muss bei Transport und Lagerung unterdrückt werden – zum einen wegen der Sicherheit und zum anderen, um dem Kunden die gewünschte Qualität gleichbleibend und verlässlich liefern zu können. Darüber hinaus benötigt gerade die Anwendung in Raketen ein besonders reines Wasserstoffperoxid – Verunreinigungen würden den Katalysator deaktivieren. Daher gelten auch für die übliche Stabilisierung des Wasserstoffperoxids durch Zusätze besondere Anforderungen. Je höher konzentriert und je reiner das H2O2 ist, desto größer sind die Anforderungen an den Transport.

Degussa hat dafür besondere, speziell zugelassene Behältnisse entwickelt. Die Innenwände der Container werden zunächst in einem aufwändigen Verfahren gebeizt, danach wird eine schützende Passivschicht aufgetragen und mit Wasserstoffperoxid behandelt. Die Eigenschaften des hochkonzentrierten H2O2 erfordern eine eigene Berechnung der für den Transport solcher Stoffe vorgeschriebenen Druckentlastung; dazu kommen Temperatur- und GPS-Überwachung. Norbert Nimmerfroh: „Uns ist es gelungen, die russischen Partner davon zu überzeugen, dass wir in der Lage sind, die von ihnen gewünschte 82,5-Prozent-Qualität verlässlich auch in das von Europa mehr als 8.000 Kilometer entfernte Kourou nach Südamerika zu liefern.“

Langjährige Erfahrung

Wasserstoffperoxid ist eine klare Flüssigkeit, die Wasser zum Verwechseln ähnlich sieht. Im gängigen Produktionsprozess fällt das H2O2 als wässrige Lösung an. Normale handelsübliche Konzentrationen liegen zwischen 30 und 70 Prozent. Nimmerfroh: „Degussa hat jahrzehntelange Erfahrung in der Herstellung von Wasserstoffperoxid nach einem selbst entwickelten Verfahren und das technische Know-how, diese wässrigen Lösungen auf bis zu 98-prozentige Qualitäten aufzukonzentrieren.“ Solch hochkonzentriertes Wasserstoffperoxid wird auch für den Raketenantrieb benötigt. Die Technologie für die Starts nutzt die Eigenschaft von Wasserstoffperoxid, sich bei Wärme oder in Gegenwart von Schwermetallen zu zersetzen. Dabei entstehen Wasser und Sauerstoff sowie thermische Energie.

Was passiert also beim Raketenstart? Ein gängiges Flüssigkeitsraketentriebwerk enthält flüssigen Brennstoff und den Oxidator in getrennten Behältern. Beides muss mit Hochdruck in das Raketentriebwerk eingespeist werden, damit der notwendige Antriebsstrahl erzeugt wird. Nimmerfroh: „Das flüssige H2O2 zersetzt sich an einem Schwermetallkatalysator unter großer Hitze¬entwicklung. Es entstehen gasförmiger Sauerstoff und Wasserdampf. Gemeinsam treiben diese die Turbopumpen an, die mit 20.000 bis 30.000 Umdrehungen pro Minute durch Schaufelräder das Kerosin und den flüssigen Sauerstoff als Oxidator in die Raketentriebwerke drücken.“ Während einer solchen Startphase geht alles rasend schnell: 300 Sekunden – und 10 Tonnen Wasserstoffperoxid sind verbraucht.

Die Erfahrungen des Spezialchemieunternehmens mit Wasserstoffperoxid im Zusammenhang mit der Raumfahrt gehen gut zehn Jahre zurück. Damals entstand ein Kontakt zu einem amerikanischen Unternehmen, das sich mit der Entwicklung einer dreistufigen Trägerrakete beschäftigte. „Diese Entwicklung haben wir begleitet und dabei viele Erfahrungen gesammelt“, erinnert sich Nimmerfroh. „Bei Logistik oder Materialverträglichkeit profitieren wir heute davon, dass wir uns damals mit dem Thema intensiv auseinandergesetzt haben. Als Subunternehmer für die amerikanische Orbital Sciences Corporation – ein Unternehmen, das sich auf die Herstellung und den Start von Erdsatelliten konzentriert hat – haben wir sogar 98-prozentiges H2O2 hergestellt.“

Noch immer innovativ

Wasserstoffperoxid ist eines der ältesten Produkte der Degussa – und, das mag paradox klingen, gleichzeitig eines ihrer innovativsten. Denn obwohl es bereits seit 1818 bekannt ist – in jenem Jahr gelang dem französischen Chemiker Louis-Jacques Thénard erstmals die Synthese –, ergeben sich immer noch neue Anwendungen, „die wir“, so Nimmerfroh, „im Dialog mit Kunden oder aus eigenen Überlegungen heraus entwickeln“. Vor fast 100 Jahren lief bei Degussa die Produktion von Wasserstoffperoxid, zunächst nach einem elektrochemischen Verfahren, in Weißenstein in Kärnten an. Für das später übliche so genannte Anthrachinonverfahren entwickelte Degussa dann einen eigenen Prozess und errichtete 1962 in Rheinfelden in Süddeutschland die erste eigene H2O2-Anlage nach diesem Prinzip.

Gemeinsam mit ihrem US-amerikanischen Partner Headwaters arbeitet Degussa außerdem zurzeit an einem weiteren neuen Verfahren zur Herstellung von Wasserstoffperoxid. In diesem innovativen Prozess wird Wasserstoffperoxid direkt aus den Elementen Wasserstoff und Sauerstoff erzeugt. Dieses Verfahren soll Wasserstoffperoxid als Oxidationsmittel für chemische Synthesen liefern und damit einen großen Zukunftsmarkt bedienen.

Weltweite Produktion

Degussa kann jährlich rund 600.000 Tonnen H2O2 herstellen. Produktionsstätten gibt es in Deutschland, Belgien, Italien, Österreich, den USA, in Kanada, Brasilien, Korea, Indonesien, Neuseeland und Südafrika. Das Einsatzspektrum von H2O2 ist sehr breit. Die größten Mengen gehen in die Zellstoffbleiche, das Altpapierrecycling und in die Waschmittelherstellung; die chemische Industrie nutzt Wasserstoffperoxid als Oxidationschemikalie. Weitere Anwendungen liegen im Umweltschutz, bei der Verpackungs¬desinfektion und Reinigung von Abwasser sowie Trinkwasser. Auch plötzlich erblondete Haare lassen auf seinen Einsatz schließen. Oder eben, jetzt wieder aktuell, der Raketenantrieb.

Degussa
Der Degussa-Geschäftsbereich Building Blocks liefert an die Firma TsENKI hochkonzentriertes Wasserstoffperoxid, das als Treibstoffkomponente beim Start der Sojus-Raketen benötigt wird.
TsENKI
Die russische Firma TsENKI ist Dienstleister für Starts von Weltraumfahrzeugen und für die Versorgung mit Raketentreib¬stoffkomponenten in Russland und Degussa primärer Ansprechpartner bei der Kooperation.
Roskosmos
Die 1992 gegründete Roskosmos ist die staatliche russische Weltraumbehörde.
TsSKB Progress
Die TsSKB Progress baut die Trägerrakete Sojus (deutsch: „Bündnis“) in Samara im Süden des europäischen Teils Russlands.
Arianespace
Das 1980 gegründete Unternehmen ist verantwortlich für den Betrieb und die Vermarktung der europäischen Trägerrakete Ariane 5.
Kourou
In der am Atlantik gelegenen Stadt in Französisch-Guyana wurde 1965 der Weltraumbahnhof der ESA gebaut.
ESA
Die Europäische Weltraumbehörde (European Space Agency – ESA) wurde 1975 gegründet und umfass heute 17 Mitgliedsländer. Sie koordiniert die europäische Raumfahrt.

Europäisches Weltraumprogramm
Die europäische Weltraumorganisation ESA ist verantwortlich für das Management des Programms „Sojus im Raumfahrtzentrum Guyana“ mit einem Volumen von 344 Millionen Euro und somit Auftraggeber an die europäische und russische Industrie. Die ESA stellt den Sojus-Startkomplex nach Fertigstellung dem Unternehmen Arianespace zur kommerziellen Nutzung zur Verfügung.

Das Programm der ESA zielt auf eine verstärkte Kooperation mit Russland im Bereich der Trägerraketen ab. Es ergänzt mit Sojus die europäischen Trägerraketen Vega und Ariane 5 und eröffnet die Möglichkeit, zu einem späteren Zeitpunkt bemannte Raumflüge vom europäischen Raumfahrtbahnhof in Französisch-Guyana zu starten. Der erste Start einer Sojus-Rakete von Guyana ist für Ende 2008 geplant.

Das Programm umfasst drei wesentliche Elemente: die Errichtung einer Sojus-Startbasis im Raumfahrtzentrum Guyana, die technische Anpassung der Sojus-Trägerrakete an die Bedingungen des Betriebes in Französisch-Guyana (Klima, Sicherheit, technische Interfaces) sowie einen Beitrag zur Entwicklung einer leistungsgesteigerten dritten Stufe.

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Weitere Informationen:

http://www.degussa.de http://www.rag.de

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